Traumzeit
die drei Weißen vor der Krankheit schützte. Ezekial beobachtete sie jeden Tag. Und jeden Tag wuchs seine Verwirrung. Das Mädchen war ein Widerspruch in sich: Sie redete wie die Weißen und sie trug die Kleider der Weißen, aber sie übte die Magie der Schwarzen aus.
Und Ezekial fragte sich: Warum schützt ein Mädchen die Weißen? Sie haben ihr die Ahnen genommen, die Sippe zerstreut und die Traumpfade entweiht …
Nach dem Gesang lehnte sich Sarah zurück und schob sich die langen Haare aus dem Gesicht. Sie blickte durch die Bäume in Richtung der Farm und sah vor ihrem inneren Auge das Schlafhaus. Frisch gewaschene Bettücher hingen zum Trocknen auf der Leine. Alles roch nach Kalk, der die Krankheit töten sollte. Sie glaubte, daß ein unheilvolles Gift seine Wirkung tat. Und dieses Gift mußte man nicht nur mit Kalk bekämpfen, sondern auch mit Magie. Aber sie befürchtete, daß ihre Zauberkräfte nicht stark genug seien. Sie brauchte Hilfe.
Ich werde zur Mission gehen, dachte sie. Ich werde mit der Alten Deereeree sprechen und sie bitten, mich einen Gesang zu lehren, der stark genug ist, um den Gift-Gesang zu bekämpfen, der auf Joanna liegt.
Sarah richtete sich plötzlich auf und hielt den Atem an. Der alte Mann war wieder da und beobachtete sie. Sarah konnte ihn spüren. Vier Wochen waren vergangen, seit sie ihm an diesem Ort die Stirn geboten hatte. Seit damals quälte Sarah die Erinnerung an die Begegnung. Man hatte ihr von klein auf beigebracht, die Alten zu achten und sie mit ›Alte Mutter‹ und ›Alter Vater‹ anzureden, und sie wußte, man mußte sich ihrer Weisheit und ihrem Urteil fügen. Ezekial verstand Joanna aber nicht richtig. Sarah wollte dem alten Mann die Achtung erweisen, die auch ihm gebührt, aber er machte sie zornig.
»Du brichst das Tabu, Alter Vater«, sagte sie jetzt, ohne sich umzudrehen. »Du beobachtest ein Frauenritual. Du darfst diesen Platz nicht betreten. Er ist dem Träumen von Frauen geweiht.«
»Ich breche kein Tabu«, sagte er und kam durch die Bäume näher. Seine Stimme klang böse. Er war es nicht gewohnt, daß junge Frauen sich ihm widersetzten. In den alten Tagen wäre so etwas nicht denkbar gewesen …
Sarah erhob sich und drehte sich um. »Ich weiß es, dieser Platz ist dem Träumen von Frauen vorbehalten«, wiederholte sie. »Die Känguruh-Ahne hat hier mit Joanna gesprochen.«
Eine kurze Unsicherheit zeigte sich in seinen Augen, doch dann sagte er: »Sie hat die Krankheit über Merinda gebracht.«
»Nein, Alter Vater. Schwarze Magie hat die Krankheit gerufen. Ein Gift-Gesang liegt auf ihr.« Er sah sie durchdringend an, und Sarah konnte die widersprüchlichen Gefühle in seinem Gesicht lesen. Sie fuhr fort: »Joanna ist eine Hüterin der Gesänge.«
»Aber sie ist eine Weiße!«
»Trotzdem ist sie eine Hüterin der Gesänge.«
Ezekial wandte den Kopf ab und musterte unter den dichten Augenbrauen die Bäume. Er fragte die Luft, den Himmel und sein eigenes Wissen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ich glaube, das Träumen wird möglicherweise zu Ende gehen.«
»Nein, Alter Vater«, sagte Sarah leise, »das Träumen wird immer hier sein. Joanna besitzt besondere Kräfte. Aber der Gift-Gesang liegt auch auf ihr.«
»Siehst du diesen Gift-Gesang?« fragte er.
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat es mir erzählt. Der Gift-Gesang liegt auf ihrer Mutter und auf ihrer Großmutter.«
»Das hat sie gesagt.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Warten wir ab. Wir werden ja sehen.« Dann drehte er sich um und ging davon.
3
Als Joanna aus dem Rindenhaus trat, blieb sie stehen und blickte über den Hof und über die verdorrten Weiden. Sie hatte Hugh seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie hatte Alpträume, in denen Menschen starben. Sie sah Hugh krank und hilflos, ohne einen Menschen weit und breit. Sie stellte sich vor, wie er zu einer der einsamen Hütten der Schafhüter ritt, die überall verstreut auf den Weiden standen, wie er entkräftet zu Boden sank, und wie er von Fieber und Schmerzen geschüttelt wurde …
Joanna wußte, er ritt Tag für Tag nach Lismore. »Pauline hat die Frauen zusammengerufen«, erzählte er ihr. »Sie sammeln Bettücher und Matratzen, sie verteilen Eier und abgekochtes Wasser in Flaschen. Die Männer holen die Sachen auf Lismore ab und bringen sie zu den einsamen Farmen.«
Joanna hielt nach ihm Ausschau. Dann ging sie über den Hof, um ihre ›Krankenpfleger‹
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