Traumzeit
trinken, befanden sich im Delirium. Keiner pflegte sie, keiner war da, sie zu begraben. In einem Haus fand Hugh einen zehnjährigen jungen, der die Gesichter seiner Eltern und Geschwister mit feuchten Tüchern kühlte und ihnen zu trinken gab, obwohl er selbst hohes Fieber und Durst hatte.
Jedesmal, wenn Hugh von seinen Ritten nach Merinda zurückkehrte, fürchtete er das Schlimmste: Joanna oder Adam an Typhus erkrankt. Er wolte bei ihnen bleiben und sie schützen. Aber er wurde an anderen Orten gebraucht. Außerdem, was konnte er tun, wenn er blieb? Manchmal lähmte ihn das Gefühl des Zorns und der Hilflosigkeit. Dann erinnerte er sich daran, wie er als Fünfzehnjähriger seinen Vater unter dem einzigen Baum begraben hatte, den es weit und breit gab. Kein Pfarrer war da, keine Trauergemeinde, es gab nicht einmal einen Sarg, sondern nur die alte blaue Decke, in der sein Vater viele Nächte unter dem sternenübersäten Himmel geschlafen hatte.
Hugh eilte in das Schlafhaus und an das Bett, in dem sein Freund lag. Joanna fragte leise: »Hat Matthew Ihnen gesagt …?«
»Ja«, antwortete er, setzte sich auf das Bett und sah Bill an. Die Totenblässe hatte bereits das sonnengebräunte Gesicht erfaßt. »Hallo, Bill«, sagte er.
Blicklose Augen starrten ihn an. »Tag, Hugh«, sagte er, »sind wir schon in Coorain?«
»Bald sind wir da, Bill.«
»Gut«, flüsterte er, »mit dem Herumziehen ist es ohnehin vorbei, Hugh. Ich möchte jetzt irgendwo bleiben. Vielleicht eine kleine Farm, ein paar Schafe …«
Er murmelte vor sich hin, sprach über vergangene Zeiten, über längst Verstorbene und über Städte im Busch, die es nicht mehr gab. Gegen Mitternacht richteten sich seine Augen plötzlich auf Hugh, und er sagte mit ganz normaler Stimme: »Schreib deine Balladen weiter, Hugh. Die Australier dürfen nicht vergessen, was sie einmal waren.«
Er starb noch in derselben Nacht. Hugh nahm von ihm Abschied: »Er war für mich wie ein Vater«, und Joanna tröstete ihn, als er weinte.
4
Pauline nahm das Fieberthermometer unter Elsies Arm hervor und überprüfte die Temperatur. Es war keines der neuen Thermometer, wie sie Dr. Ramsey benutzte, sondern von der alten Art, mit denen man nur die Temperatur in der Achselhöhle messen konnte, und es dauerte zwanzig Minuten. Aber es war genau, und Pauline sah, daß das Fieber ihrer Zofe an diesem erdrückend heißen Januartag wieder um einen Teilstrich gestiegen war.
Sie nahm ein Handtuch aus einem Eimer mit kaltem Wasser, wrang es aus und kühlte damit Elsie das Gesicht.
»Miss Downs«, flüsterte die junge Frau. »Das sollten Sie nicht tun …«
»Du hast mich versorgt«, erwiderte Pauline sanft, »und jetzt versorge ich dich.«
»Wie geht es meinem Tom?« fragte Elsie. Die Frage galt dem jungen Mann, den sie liebte. Um diese Liebe hatte Pauline ihre Zofe beneidet. Aber Tom war am Vortag gestorben.
»Es geht ihm gut«, antwortete Pauline.
»Warum besucht er mich nicht?«
»Er hilft Mr. Downs, die Kranken im Distrikt zu versorgen. Bleib nur ruhig liegen, Elsie, und mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden.«
Pauline legte das Handtuch wieder in den Eimer und nahm ein anderes heraus. Sie wrang es aus und legte es auf Elsies heiße Schultern. Pauline sah das vom Tod gezeichnete Gesicht ihrer Zofe und dachte: Wie schnell und leicht verlieren wir das Leben. Wieder einmal erschrak sie vor der Unberechenbarkeit des Schicksals. Sie dachte an Miss Flora McMichaels, die vor dreißig Jahren nicht im Traum daran gedacht hatte, am Tag vor der Hochzeit ihren Bräutigam zu verlieren.
Pauline überließ Elsie der Obhut eines anderen Dienstmädchens und ging hinaus auf den Rasen, wo die Frauen Körbe mit Lebensmitteln packten und Bettücher sortierten und falteten, die man den hilfsbedürftigen Familien bringen wollte.
»Wo ist Winifred?« fragte sie und sah sich um.
Louisa legte stöhnend die Hand auf den Rücken. Sie war im fünften Monat schwanger. »Winifred ist nach Hause gegangen. Der kleine Timmy ist krank.«
Pauline nickte stumm. Jeden Tag kamen weniger und weniger Frauen. Entweder waren sie selbst erkrankt oder sie mußten ihre Angehörigen pflegen. Sie dachte an Hugh und fragte sich, wo er sein mochte, ob er noch gesund war. Ihre innere Spannung wuchs. Das Blut in den Adern schien unter dem inneren Druck zu rasen. Elsies Tom war erst sechsundzwanzig und so gesund wie die Pferde gewesen, die seiner Obhut unterstanden. Innerhalb von zehn Tagen war er
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