Traumzeit
gestorben.
Pauline betrachtete die Flaschen auf dem langen Tisch, die in verschiedenen Farben in der Sonne glänzten – Milchflaschen, Bierflaschen und Flaschen, in denen einmal Medizin gewesen war. Man hatte sie gesammelt und nach Lismore gebracht. Hier waren sie gewaschen und in kochendem Wasser keimfrei gemacht worden. Jetzt würde man sie mit abgekochtem Wasser füllen. Pauline rollte die Ärmel hoch und begann trotz Hitze und Müdigkeit mit dem Füllen.
Louisa hob den Kopf und sah eine Frau auf dem Weg.
»Ich gehe schon«, sagte sie zu Pauline, »und frage, was sie will.«
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie die Frau.
»Sind Sie Miss Downs?«
»Ich bin Mrs. Hamilton. Dort drüben, das ist Miss Downs. Wer sind Sie?«
»Ich heiße Ivy Dearborn. Ich würde Ihnen gerne helfen.«
Louisa betrachtete sie prüfend. Sie sah das schlichte Kleid und stellte auch fest, daß die hellroten Haare sittsam unter einer Haube verschwanden. Louisa wußte, wer diese Frau war. Sie hatte gehört, wie ihr Mann über die neue Bardame in Finnegans Pub sprach. »Bedaure, aber wir haben genug Hilfe.«
Ivy blickte zu den langen Tischen, auf denen Lebensmittel lagen, Flaschen standen und Bettücher sich stapelten. Sie sah, daß es viel zu wenig Helferinnen gab. Und sie sah auch die große und schöne Pauline, die Frank überhaupt nicht glich. Ivy stellte sich den Mann in dieser Umgebung vor, um den ihre Gedanken kreisten, seit sie ihn vor ein paar Monaten gezeichnet hatte. Sie dachte daran, wie sehr sie auf ihn gewartet, wie sie Tag um Tag gehofft hatte, er werde in Finnegans Pub kommen. Wie gerne hätte sie seine Einladungen angenommen. Aber aus Angst vor einer Wiederholung dessen, was sie schon einmal erlebt hatte, lehnte sie jedesmal ab. Und dann hatte er sie gebeten, mit ihm in die Kirche zu gehen. Ivys Hoffnungen waren wieder gestiegen – um jetzt im grellen Licht der Wirklichkeit in einen bodenlosen Abgrund zu versinken.
»Ich verstehe«, sagte sie und ging.
Als Louisa zum Tisch zurückkehrte, fragte Pauline: »Wer war das?«
»Niemand«, erwiderte Louisa. »Nur eine Bardame. Sie wollte uns helfen.«
»Und du hast sie weggeschickt?«
»Frauen dieser Sorte brauchen wir hier nicht.«
»Louisa, das ist mein Haus, und ich bestimme, wer hier sein darf und wer nicht.« Sie rollte die Ärmel herunter und wollte der Frau folgen, um sie zurückzurufen.
Aber ehe sie das tun konnte, erschien ein Bote von Kilmarnock. »Mr. MacGregor bittet Sie, sofort zu kommen, Miss Downs.«
Pauline rief nach ihrem Zweispänner und fuhr nach Kilmarnock. Dort fand sie Colin an Christinas Seite. Sie glühte vor Fieber und befand sich im Delirium. Der kleine Judd stand bleich in einer Ecke des Zimmers.
»Ich kann Ramsey nirgends finden«, sagte Colin, »und die Frau, die Christina gepflegt hat, ist seit heute morgen auch krank. Können Sie mich hier ablösen? Ich werde nach Merinda reiten und Miss Drury holen.«
Pauline war über sein Aussehen entsetzt. Colin MacGregor war immer so kräftig und vital gewesen und achtete sehr auf ein gepflegtes Aussehen. Aber dieser Mann hier war viel zu dünn und blaß, um der großspurige nächste Laird von Kilmarnock zu werden. »Es ist besser, Sie bleiben hier, Colin«, erwiderte Pauline. »
Ich
werde Miss Drury holen.«
5
Hugh ritt in den stillen und menschenleeren Hof von Merinda. Er sprang vom Pferd und ging in das Schlafhaus, wo Joanna gerade ein Laken über das Gesicht eines Farmarbeiters zog. Sie sah Hugh mit tiefen dunklen Ringen unter den Augen an. »Hugh«, flüsterte sie und wurde ohnmächtig.
Er trug sie über den Hof in das Rindenhaus, legte sie auf das Bett und sah sie besorgt an.
»Joanna«, murmelte er und berührte vorsichtig ihr Gesicht. Sie schlug kurz die Augen auf, holte tief Luft und schlief auf der Stelle ein.
Hugh blieb bei ihr sitzen. Sie ist so schön, dachte er, aber sie ist so schmal geworden. Die Backenknochen unter der gespannten Haut traten spitz hervor.
Pauline erschien plötzlich in der offenen Tür. Sie blieb stehen und sah, wie Hugh sich besorgt über Joanna beugte. »Ist sie krank?« fragte Pauline.
Er hob den Kopf. »Pauline!« rief er überrascht. »Nein, aber völlig erschöpft. Sie muß unbedingt schlafen.«
»Colin MacGregor bittet darum, daß sie sofort nach Kilmarnock kommt. Christina ist äußerst krank.«
»Sag ihm, Joanna wird kommen, wenn sie sich etwas ausgeruht hat.«
Pauline sah, wie er sich wieder über Joanna beugte, wie er den Blick nicht von
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