Traumzeit
allein lassen. Er fürchtete sich davor, sie allein zu lassen. Aber wenn er keine Hilfe holte, dann würde sie vielleicht für immer schlafen – so wie Mama.
Er drehte sich um und lief los.
»Hilfe, Hilfe, Hilfe!« rief er, als er in den Hof rannte, »Hilfe! Joanna ist verletzt! Joanna ist verletzt!«
Er lief die Verandastufen hinauf, aber er fand niemanden in dem Rindenhaus. Er rannte zum Kochhaus. Ein Topf stand auf dem Ofen, aber den chinesischen Koch sah er nirgends. »Hilfe, Hilfe!« rief er und lief zum Schlafhaus. Er blieb an der mit einer Decke verhängten Tür stehen. Der scharfe Karbolgeruch stieg ihm in die Nase, und seine Augen schmerzten.
Er drehte sich um, lief aus dem Hof und über den Weg zur Straße.
8
Hugh war froh, Merinda bald erreicht zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so müde gewesen zu sein. Sarah saß stumm an seiner Seite. Er hatte sie unterwegs getroffen und mitgenommen. Sie hatte gesagt, sie sei in dem Missionsdorf gewesen, um mit der alten Deereeree zu reden. Aber sie hatte erfahren, daß die alte Frau an Typhus gestorben war.
»Es gut mir leid, Sarah«, sagte Hugh, der das Ausmaß ihrer Trauer spürte. »Das mit Deereeree tut mir sehr leid.«
»Sie war alt«, sagte Sarah. Dann schwieg sie wieder, denn es war tabu, über die Toten zu reden. Sarah wußte, sie würde Deereerees Tod mit sich tragen und ihr ganzes Leben daran denken. Sie würde auch nicht vergessen, daß die Geheimnisse der alten Frau, ihre Gesänge und das Wissen der Ahnen mit ihr gestorben waren.
»Nanu«, sagte Hugh, »wer kommt denn da? Das ist ja Adam!«
Er zügelte das Pferd und sprang vom Wagen. »Was ist los, Adam? Was ist geschehen?«
»Joanna! Joanna ist verletzt!« rief Adam atemlos. »Dort unten! Dort am Fluß! Sie ist vom Pferd gefallen! Sie will nicht aufwachen!«
Hugh fuhr mit dem Wagen so schnell wie möglich über die Wiese. Als sie die Bäume erreichten, sprang er vom Kutschbock und lief den Rest des Wegs zu Fuß. »Joanna!« rief er. »Joanna!«
Zuerst sah er das grasende Pferd und dann Joanna. Sie richtete sich gerade auf und rieb sich den Kopf.
»Mein Gott, Joanna«, er kniete sich neben sie.
»Das Pferd hat mich abgeworfen …«
»Mein Gott, Joanna«, murmelte er noch einmal.
Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Dann drückte er sie fest an sich.
Sie legte ihm die Arme um den Hals, preßte sich an ihn und erwiderte seinen Kuß ebenso leidenschaftlich.
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah die Tränen.
»David ist tot, Hugh«, flüsterte sie. »Das ist alles ein schrecklicher Alptraum.«
Er half ihr aufzustehen. Sie umarmten sich wieder und blieben eng umschlungen stehen.
Dann kam Adam gelaufen und rief ängstlich: »Wie geht es dir, Joanna? Ich hatte solche Angst. Ich dachte, du würdest nicht mehr aufwachen … wie Mama. Aber jetzt ist alles gut, nicht wahr? Ich habe Hilfe geholt, nicht wahr?«
»Ja, Adam«, sagte Joanna und lächelte. In Hughs Armen waren plötzlich ihre Schwäche und Müdigkeit verflogen. Sie fühlte seine Kraft und wollte ihn nie mehr loslassen. »Ja, Adam, du hast genau das Richtige getan.«
Kapitel Elf
1
Sarah sammelte ihre Steine, die Federn und die Armreifen aus Menschenhaar zusammen und ging damit wieder zum Fluß. Ihr Zauber hatte gewirkt. Die Typhusepidemie war vorüber. Im Distrikt waren viele gestorben, aber die Krankheit hatte Joanna, Adam und Hugh verschont.
Alle sagten, Mr. Shapiro habe den Typhus in das westliche Victoria eingeschleppt. Aber Sarah glaubte, daß auch der Gift-Gesang einen Anteil daran hatte. Sie glaubte es, denn
ihr
Gesang schien die Krankheit vertrieben zu haben. Jetzt mußten die Gegenstände des Rituals vergraben werden, denn sie besaßen große Macht. Sie besaßen ein Eigenleben, und man mußte ihnen die angemessene Achtung erweisen. Während Sarah am Ufer des Sees mit den Händen den weichen Ton aushob, stimmte sie einen letzten Gesang an. Aber diesmal war es ein Liebes-Gesang.
Sarah hatte beobachtet, wie die Liebe zwischen Hugh und Joanna wuchs, und die Liebe, die sie für den kleinen Jungen empfanden, der so verletzt worden war und dessen seelische Wunde jetzt zu heilen begann. Aber Hugh würde heiraten, und Joanna hatte gesagt, sie müsse gehen. Sarah fand, es war falsch von Joanna, zu gehen. Sie gehörte hierher. Ihr Traumpfad hatte sie hierher gebracht.
Sarah benutzte einen sehr mächtigen Gesang. Sie hatte ihn vor langer Zeit von ihrer Mutter gelernt, bevor diese in die Wüste
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