Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)
die Schildkrötensuppe sei falsch, weil ich an Melmoth und Yvette denken musste.
Hatte ich bei Beatrice in Berlin alles falsch gemacht, wollte ich in diesem kostbaren Moment alles richtig machen.
Als der erste Schluck Fendant an mir arbeitete, machte ich Beata ein Liebesgeständnis, während der Tortue claire en tasse hatte ich prompt eine recht negative Erwiderung.
Sie sind, sagte sie, komplett plemplem.
Ich verwies nach einem Beefsteak à la tartare auf meine erfolgreichen urologischen Kuren in Berlin und die extrem günstigen Diagnosen des Dr. Spoerri; seelisch infirm, sei ich exemplarisch gesund. Fetisch Gesundheit, sagte Beata verächtlich und spießte eine schwarze Schnecke auf ihre Gabel. Ihre Lippen glänzten.
Ich stimmte zu.
Der Krankheits-Status der meisten Patienten, sagte ich, lasse schwer zu wünschen übrig, das könne man leicht sehen. In meiner Verwirrung bestellte ich eine zweite Tortue claire; die Unterhaltung mit Beata war eine Tortur.
Ich will, sagte ich, nur eine kleine Liebesgeschichte, eine Affäre auf Zeit; sie allein sei imstande, meine positiven Impulse neu zu beleben.
Sie sagte, ich sei verrückt.
Ich könne in Ihren braunen Augen versinken wie in einen Abgrund, sagte ich.
Kann sein, dass ich zu pragmatisch vorging; Poesie ist immer gut, wenn man sie korrekt placiert, möglicherweise war ein Themenwechsel günstig. Sie war ja eine gebildete Intellektuelle.
Meine lieben Eltern, sagte ich, hatten einen gemeinsamen Alzheimer, natürlich jeder für sich, das Syndrom brach etwa zur gleichen Zeit aus.
Was für eine glückliche Koinzidenz, sagte die Dame und bestellte sich Café crème.
Das wahre Wort, sagte ich; es schien gemütlich zu werden, ich orderte eine zweite Flasche Fendant.
Meine Mutter erwischte es zuerst; sie vernachlässigte ihren Körper, sie las nicht mehr, ihr Gedächtnis begab sich auf die Flucht, hinterließ aber die Erinnerung an ihre große Zeit der inneren Emigration von 1933 bis 1945. Sie hieß Helene.
Mein Vater war Max Singram, ein berühmter Maler, den erwischte es schleichend während der Arbeit an einem Riesenschinken mit einem Arche-Noah-Motiv; er brachte, glaube ich, 150 Tiere auf der Arche unter, Säuger, Amphibien, Reptilien und Vögel auf fünf Decks in Seitenansicht im Sagitalschnitt. Das Heck hatte er sich für das Finale des Bildes aufgespart, dort wollte er, wie er mir schrieb, ein Pärchen Riesenschildkröten sich paaren lassen, inspiriert von des Meeres und der Wolken Allgewalt. Auf dem Oberdeck kopuliert Noah mit einer gewissen Esther am Steuerrad, von oben stürzen grüne Fluten aus schwarzen Wolken auf die lebensfrohe Szene.
Die einzige traurige Szene war der waldigen Küste vorbehalten – dort stand einsam ein Mastodonsaurus giganteus, eine Art Riesenalligator mit einem großen Schädel, das Maul voller kegelförmiger Zähne, aus dessen rechter, großer Augenhöhle ein Auge blickte, aus dem eine bittere Träne floss, während er der Arche nachschaute.
Die Reduktion durch das Alzheimer-Syndrom zeigte sich bei Singram in der Behandlung des Körpers des Mastodonsaurus – der Maler malte einen Froschkopf, was der verständlichen Trauer des Tieres natürlich keinen Abbruch tat.
Traurige Geschichte, sagte Madame, wie endete sie?
Als Singram den Zerfall seines Gehirns und seiner Fähigkeiten bemerkte, vermachte er mir alle seine Bilder, inklusive der ‹Arche›, und zog auf Wunsch meiner Mutter mit wenig Ballast in ein exklusives Altersheim mit ärztlicher Aufsicht und sanftem Pflegepersonal in das alte Nazi-Nest Eutin.
Ich habe sie dort besucht. Ihre motorischen Funktionen hatten nicht gelitten. Sie pflegten sich. Singram stellte in seiner Suite obszöne Federzeichnungen in der Manier von Bayros her, wilde Paarungen insgesamt – riesige Schmetterlinge kopulierten mit Elephanten, Löwen bestiegen Antilopen, Mungos kopulierten mit Schlangen –, und Menschen, wenn sie überhaupt vorkamen, penetrierten Astlöcher oder spaltenreiche Tuffsteine. Ich denke, mein Vater war glücklich, denn seine Gattin Helene lebte in einem anderen Flügel. Sie trafen sich viermal am Tag in einem hübschen Speisesaal mit Blick auf einen Teich und begrüßten sich immer so herzlich, als hätten sie sich niemals zuvor gesehen, an einem Tisch, der bis zu ihrem endgültigen Erlöschen unverrückbar in ihrem Gedächtnis gespeichert war.
Beata seufzte nach dieser Geschichte.
Ihre Mutter, sagte sie, leide nur an Demenz im Anfangsstadium.
Das kann noch werden, sagte
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