Traveblut
Weichert diesem Piet irgendetwas Wichtiges sagen wollten, bevor du …«
»Ja«, sagte Andresen. »Es klang so, als wollten sie ihm etwas beichten. Vielleicht ein altes Geheimnis, das sie zehn Jahre lang mit sich rumgeschleppt haben.«
»Also wissen sie mehr, als sie bislang verraten haben?«
Andresen zuckte mit den Schultern. Obwohl er sich sicher war, dass Hanka Weichert bei ihren Gesprächen nicht die volle Wahrheit erzählt hatte, wusste er noch immer nicht, nach welchem Geheimnis sie eigentlich suchten. Es war, als täten sich immer neue Verbindungen und Abgründe auf.
Eine halbe Stunde später empfing Gisela Sachs Andresen in ihrem Büro. Sie wirkte angespannt. Nichts war mehr übrig von ihrer resoluten, autoritären Ausstrahlung.
»Gut, dass Sie sich so kurzfristig Zeit nehmen konnten«, begann Andresen.
»Was wollen Sie denn noch?« Sie klang nervös.
»Wir haben die Unterlagen durchgearbeitet, jede einzelne Seite«, antwortete Andresen. »Es war tatsächlich nichts zu finden, was in irgendeiner Weise auffällig gewesen wäre.«
»Das habe ich Ihnen doch schon mehrmals gesagt. Sie suchen am falschen Ort. Hier werden Sie keine Hinweise auf diesen Verrückten finden.«
»Einen Moment, ich war noch nicht ganz fertig«, schob Andresen nach. »Als wir selbst schon nicht mehr daran geglaubt haben, sind wir allerdings über eine Kleinigkeit gestolpert.« Er kramte in seiner Jackentasche und zog einen gefalteten Zettel hervor. »Ein Eintrag über einen damaligen Schüler der vierten Klasse, der uns merkwürdig vorkam. Vielleicht können Sie etwas dazu sagen?«
Widerwillig setzte Gisela Sachs ihre Brille auf und blickte auf die kopierte Seite. »Was ist damit?«, fragte sie nach einer Weile.
»Jimmy Vosberg«, antwortete Andresen. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
Der Moment, den sie zögerte, ehe sie ihre Antwort gab, dauerte zu lange. Andresen spürte sofort, dass sie auf der Hut war.
»Ich glaube, ich erinnere mich«, antwortete sie schließlich unbeteiligt. »Ein durchschnittlicher Schüler.«
»Wie erklären Sie sich diesen Vermerk?«, hakte er nach. »Wer könnte ihn geschrieben haben?«
»Das kann jeder von uns gewesen sein«, wiegelte sie ab. »Hören Sie, Herr Kommissar. Sie verschwenden hier wirklich Ihre Zeit. Und meine dazu. Ich kann Ihnen bei dieser Sache nicht helfen.«
»Stimmt es, dass Brigitte Jochimsen die Klassenlehrerin von Jimmy Vosberg war?«
»Ja.«
»Hat sie diesen Vermerk geschrieben?«
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Gisela Sachs barsch. »Ich war nicht dabei. Sie verrennen sich hier in etwas.«
»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein.« Andresen musterte sie eindringlich. Ihre unkooperative Art ärgerte ihn zunehmend. »Wenn Sie uns nicht helfen wollen, muss ich Sie aufs Präsidium vorladen. Ich verspreche Ihnen aber, dass es dort ungemütlicher für Sie werden wird.«
»Sie wollen mir drohen?«
»Das ist Ihre Interpretation«, konterte Andresen kühl. »Sie können mir auch einfach meine Fragen beantworten. Das wäre für alle das Einfachste.«
Gisela Sachs stand auf und trat ans Fenster. Demonstrativ drehte sie Andresen den Rücken zu. »Na gut«, sagte sie plötzlich. »Stellen Sie Ihre Fragen, damit wir es endlich hinter uns bringen. Aber glauben Sie nicht, dass ich das mache, um Ihnen zu helfen. Der einzige Grund ist, dass ich hoffe, dass Sie endlich verschwinden und hier wieder Ruhe einkehrt.«
Andresen ignorierte ihren Kommentar. »Wie ich eben schon sagte, interessieren mich in erster Linie zwei Dinge. Was wissen Sie über Jimmy Vosberg? Und wer könnte diesen Eintrag in den Akten vermerkt haben?«
Gisela Sachs atmete langsam und deutlich hörbar aus. Die Sekunden, die verstrichen, ließen Andresen ungeduldig werden. Doch dann brach sie ihr Schweigen und begann zu erzählen.
»Jimmy ist der Sohn des Lübecker Apothekers Helmut Vosberg und seiner Ehefrau Dagmar. Vielleicht kennen Sie die beiden?«
Andresen zuckte mit den Schultern. Er hatte den Namen Vosberg noch nie gehört.
»Die beiden haben ihn adoptiert, als er zwei Jahre alt war. Seine leiblichen Eltern hatten sich kurz nach der Geburt getrennt. Der Vater ist anschließend in sein Heimatland Ghana zurückgekehrt.«
Sie hielt kurz inne und schluckte schwer. »Jimmy war immer ein netter, zuvorkommender Junge. Seine Hautfarbe führte zu keinerlei Problemen, nicht wie bei vielen farbigen Kindern an anderen Schulen. Und seine Schulnoten waren immer in Ordnung. Nach der vierten Klasse konnte Jimmy
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