Traveler - das Finale
zerstört worden, aber in einer zersplitterten Fensterscheibe in der Nähe des verlassenen Stadtmuseums hatte sie ihr Gesicht gesehen. Ihr Haar war glanzlos, ihre Augen wie tot.
Ihre äußere Erscheinung störte Maya weniger als der Verfall ihres Gedächtnisses; manchmal bekam sie das Gefühl, ganze Abschnitte ihres Lebens schmölzen dahin. Sie klammerte sich verzweifelt an die wenigen klaren Erinnerungen, die ihr noch geblieben waren. Vor langer Zeit hatte sie an einem Wintertag
im südenglischen New Forest eine Herde Wildpferde beobachtet, die über die schneebedeckte Landschaft galoppiert waren. Vor ihrem geistigen Auge sah sie stämmige Beine und verfilzte Mähnen, den von den Hufen in die Höhe geschleuderten Schnee und den weiß kondensierenden Atem der keuchenden Tiere, der in der Luft hängen blieb.
Sie konnte sich bruchstückhaft an Momente mit ihrem Vater und ihrer Mutter erinnern, mit Linden, Mother Blessing und den anderen Harlequins, aber Gabriels Stimme war die einzige, die sie noch hörte, und nur sein Gesicht sah sie klar und deutlich. Ihre Liebe hatte die Erinnerung an ihn bis jetzt bewahren können, dennoch fiel es Maya zunehmend schwer, die Bilder abzurufen. Verblasste Gabriel wie auf einem Foto, das in der Sonne lag, bis die Farben stumpf wurden und die Kontraste verschwammen? Sollte sie ihn noch einmal verlieren, würde sie so enden wie alle anderen auf dieser Insel – am Leben, aber innerlich tot.
Maya hörte ein Kratzgeräusch aus dem Korridor und öffnete die Augen. Ihr blieben nur wenige Sekunden, das Schwert zu ziehen, bevor die Tür ein Stück weit geöffnet wurde und gegen die Schreibtischkante schlug. Maya packte ihre Tasche, warf sich den Riemen über die linke Schulter und lauschte. Der Eindringling klopfte an.
»Sind Sie da?«, flüsterte eine Stimme. »Hier ist Pickering. Mr. Pickering. Ich bin ein Freund von Gabriel.«
»Auf dieser Insel gibt es keine Freunde.«
»Aber es stimmt«, sagte Pickering, »das schwöre ich! Ich habe Gabriel geholfen, als er hier war und die Wölfe uns gefangen nahmen. Machen Sie die Tür auf, bitte. Ich habe Sie überall gesucht.«
Maya konnte sich schwach an einen zerlumpten Mann erinnern. Man hatte ihn in der ehemaligen Schule, die den Wölfen als Hauptquartier diente, an ein Rohr gekettet. Auf ihren
Wanderungen durch die Stadt war sie einigen der menschlichen Kakerlaken begegnet, die sich hinter Wänden und unter Bodenbrettern versteckten. Sie schienen stets verängstigt und sprachen hastig und leise, so als könnten sie sich durch den konstanten Wortschwall selbst beweisen, noch am Leben zu sein. Die Kakerlaken waren die Intellektuellen der Hölle, nie um einen großen Plan oder eine langatmige Ausrede verlegen.
Maya ließ das Schwert in den Köcher zurückgleiten, ging zur Tür und zog den Schreibtisch ein Stück weit von der Wand ab. Pickering musste das Scharren der Tischbeine auf den Bodenkacheln gehört haben, denn er drehte sofort am Türknauf. Diesmal bekam er die Tür weit genug auf, um den Kopf hereinzustecken. »Mr. Pickering, stets zu Diensten. Bevor die Probleme anfingen, war ich stolzer Besitzer einer Schneiderei. Für exquisite Damenbekleidung.« Er holte tief Luft. »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Maya.«
»Maya.« Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Was für ein schöner Name.«
Pickering war so gelenkig wie ein Frettchen, wenn es darum ging, seinen Körper durch einen Spalt zu zwängen, der nicht breiter war als sein Kopf. Noch bevor Maya reagieren konnte, war er durch den Türspalt geschlüpft und stand im Raum. Pickering war ein dünner, zitternder Mann mit langem Haar und einem Bart. Der grüne Fetzen aus Seidenstoff, den er sich um den Hals gebunden hatte, sah aus wie die Schlinge eines Henkers, aber dann erkannte Maya, dass es sich um einen noch seltsameren Gegenstand handelte – eine Krawatte.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Ich kenne alle Verstecke auf dieser Insel. Ich war hier und habe die Fußspuren auf der Treppe gesehen.«
»Haben Sie irgendwem davon erzählt?«
»Ich war versucht, es zu tun. So wie jeder andere es gewesen
wäre.« Pickering bleckte die vergilbten Zähne. »Der neue Verwalter hat einhundert Essensrationen auf Ihre Ermordung ausgesetzt.«
»Falls er meinen Tod wirklich wünscht, sollte er die Belohnung verdoppeln.«
»Die meisten Wölfe haben Angst vor Ihnen. Manche sagen, Sie wären ein Geist oder Dämon. Man kann Sie nicht töten, weil Sie schon tot sind.«
Maya
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