Traveler - das Finale
stehst direkt über einem Schlafzimmer. Möglichst lautlos überquerte Gabriel das Dach und spähte in die Lücke zwischen dem Wohnquartier der Mönche und der Kapelle. Es war so dunkel, dass er den Hof unter sich nicht sehen konnte. Er bekam das Gefühl, an einem bodenlosen Abgrund zu stehen. Er erinnerte sich an den Rat, den die Free Runner ihm vor dem Wettlauf über den Smithfield Market gegeben hatten. Schau auf deine Füße, aber nicht weiter.
Gabriel maß drei Schritte Anlauf ab und wählte einen Startpunkt. Er holte tief Luft, und dann rannte er los, sprang ab, segelte mit rudernden Armen durch die Dunkelheit und krachte auf der anderen Seite auf das rote Ziegeldach der Kapelle. Er strauchelte, geriet ins Rutschen und warf sich flach auf den Bauch, um sich an den Dachschindeln festzuklammern. Jeder muss mich gehört haben, dachte er .Alle wissen, dass ich hier bin. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie aufgebrachte Mönche aus dem Bett sprangen, in den Hof rannten und Alarm schlugen.
Aber nichts passierte. Gabriel hörte nichts außer seinen eigenen Atem und das leise Scharren seiner Fingernägel auf den Dachschindeln. Er kroch bis zum Glockenturm und kletterte hinein. Wieder wartete er eine Minute ab und lauschte, ob irgendwer käme, dann stieg er die Treppe ins Foyer hinunter. Die Tür zum Innenraum der Kapelle quietschte leise, als er die Klinke hinunterdrückte.
Die Votivkerzen in den roten Gläsern flimmerten wie die letzte Glut eines sterbenden Feuers. Die Dunkelheit verschluckte die Gesichter der Ikonen, aber die vergoldeten Rahmen und die Kronleuchter aus Messing reflektierten das Kerzenlicht. Gabriel schlich durch den Gang auf der linken Seite und entdeckte im selben Moment einen Mönch vor dem Altarschirm.
Es handelte sich um einen alten, kleinen Mann mit gebeugten Schultern, der eine Gebetskette in der Hand hielt, an deren Ende eine Spindel hing. Er ging betend auf und ab und ließ die Kette durch Daumen und Zeigefinger wandern. Während die Sandalen des Mönchs über den Steinboden schlurften, drehte die Spindel sich im Uhrzeigersinn wie eine winzige Gebetsmühle.
Gabriel blieb hinter einer Säule stehen und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Ging er nach vorn, würde der Mönch ihn sofort bemerken. Er könnte die Kapelle durch den Haupteingang verlassen, falls der nicht abgeschlossen war. Gabriel harrte über zwanzig Minuten in der Finsternis aus, bis die Tür aufschwang und ein zweiter Mönch eintrat. Die Männer unterhielten sich auf Griechisch, und Gabriel fragte sich, ob man seine Schritte auf dem Dach gehört hatte. Der alte Mönch eilte auf den Seitengang zu, besann sich dann eines Besseren und folgte dem jüngeren aus der Kapelle.
Waren sie für die restliche Nacht verschwunden oder nur für ein paar Minuten? Gabriel nahm eine Kerze in die Hand und eilte am Altar vorbei zum Wandteppich. Er zog den verstaubten Stoff beiseite und entdeckte eine schwere Eichenholztür mit schmiedeeiserner Klinke und Schlüsselloch. Eilig band er den Wandteppich fest. Das Schloss wirkte recht neu, die Tür hingegen alt. Gabriel wich einen Schritt zurück und trat gegen die Stelle über dem Schlüsselloch. Er trat immer weiter, bis sich ein Teil des hölzernen Rahmens knackend löste und die Tür aufsprang.
Die Kammer war kleiner, als er gedacht hatte, etwa vier Meter lang und zwei Meter breit. Auf einem weißen, steinernen Altar standen ein goldenes Kreuz und zwei Kerzenhalter. Direkt über dem Kreuz hing ein düsteres Ölgemälde, das Moses neben dem brennenden Dornbusch zeigte. In einer Ecke der Kammer stand ein dreibeiniger Hocker mit einem bestickten Kissen, davon abgesehen war der Raum leer.
Gabriel schritt die Kammer mehrfach ab, bis er im Boden vor dem Altar eine Marmorplatte entdeckte. Der quadratische Steinblock sah aus wie der Deckel eines Sarkophags. In seine Oberfläche waren ein Kreuz und griechische Buchstaben eingraviert.
Gabriel kniete nieder, schob die Marmorplatte ein paar Zentimeter zur Seite und blickte in eine Finsternis, die wogte und waberte wie schwarzes Öl in einer weißen Steinschale. Der Traveler steckte eine Hand hinein und bewegte seine Finger. Kein brennender Busch. Keine Stimme Gottes. Er war ganz in dieser Welt, in dieser bestimmten Realität, aber die war nichts als eine hauchdünne Schicht in einem weitaus komplizierteren System. Er versenkte seine Hand in der Dunkelheit und sah sie verschwinden.
ZEHN
E in paar Tage, bevor der Harlequin Gabriel nach Ägypten
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