Treffpunkt Irgendwo
andere Leute leben. Deshalb las ich auch so gerne. Mit Fantasy oder Romantikzeugs mit oder ohne Vampire konnte ich nichts anfangen, ebenso wenig mit Krimis. Ich stand schon immer auf Bücher, die vom Leben anderer berichteten. Über das Mädchen, das sich ritzte, weil es vom Vater vergewaltigt worden war. Und auch über das Leben eines Straßenkindes hatte ich schon einen Roman gelesen. Doch nie hatte ich gedacht, ich würde einmal selbst damit in Berührung kommen. Bislang waren all diese Geschichten immer Berichte aus einer anderen Welt gewesen.
Ich habe viel darüber nachgedacht, warum mich Len so beschäftigte, mehr noch, mich berührte. Das war ja nicht etwa Mitleid, ich hatte nie vor, ihm zu helfen, wie hätte das auch gehen sollen. Ich fand ihn genauso wenig auch nur ansatzweise attraktiv. Len war definitiv nicht mein Typ. Ich stand mehr auf die Jungs mit längeren Haaren, eher so die kuscheligen, so Typ Knuddelbär. Jungen wie Ole. Wir waren zwei Jahre zusammen gewesen. Erste Liebe, komplettes Programm.
Und doch musste ich immer wieder an diesen einen kurzen Augenkontakt mit Len denken. Diese Einsamkeit, die ich tief in ihm gesehen hatte, die machte mich fertig, ließ mich einfach nicht los. Kurzzeitig hatte ich Angst, der Grund, warum ich das nicht einfach abhaken konnte, läge in mir. Dass ich womöglich tief in mir drin eine ebenso große bodenlose Schwärze hätte. Die aber bislang geschlafen hatte und erst durch diesen Augenblick geweckt worden war. Doch noch während ich diesen Gedanken dachte, wusste ich, das ist Blödsinn. Semipsychologisches Geschwätz. Ich wollte nicht auf der Straße leben. Ich war glücklich mit meinem Leben. Weder war ich traumatisiert durch eine Vergewaltigung durch irgendeinen Stiefvater, den es nicht einmal gab, meine Eltern waren meine Originaleltern. Noch war ich sonst wie unglücklich. Ich hatte Freundinnen, keine Schulprobleme, liebte mein Klavier, mein Zimmer, ging überwiegend gerne zur Schule, mein Leben war schön. Und ich hatte keinerlei Bestrebungen, etwas daran zu ändern. Nicht einmal mit Magersucht oder so konnte ich aufwarten. Ich hatte keine Supermodelfigur, aber so wie diese Tussen wollte ich auch nicht aussehen. Ich spielte Basketball, und das nicht einmal schlecht. Meine Mannschaft war letzte Saison Bezirksmeister geworden. Ich war fit. Meine kurze Emozeit lag auch schon lange zurück, sie hatte gerade einmal zwei Monate gedauert. Dann war ich für einen Sprachkurs nach Cambridge und da war das ganz schnell vorbei gewesen.
Normaler als ich, Jana Heimann, konnte niemand sein. Doch selbst daraus ließ sich kein Grund ableiten, auszusteigen oder plötzlich ein Drogenproblem zu entwickeln. Ich fand das gut so.
Warum ich dennoch drei Wochen später wieder am Alex stand, konnte ich nicht erklären. Es war auch nicht geplant, sondern rein zufällig. Aber sich selbst kann man schwer etwas vormachen, ich wusste natürlich, dass es geplant zufällig war. Denn ausgerechnet mit René und Mirijam, mit denen ich sonst nie etwas unternehme, hatte ich mich in der Alten Schönhauser Straße zum Shoppen getroffen und dann hatten wir uns getrennt. Die beiden wollten noch ins Kino, ich dagegen wollte noch in diesen Schuhladen in der Münzstraße. Zudem stand ich nicht so auf 3-D-Filme. Ich bekam da immer Kopfweh.
Der Tipp von Kathi mit dem Schuhladen entpuppte sich als Reinfall. Nur so Leopardenmusterstiefel. Absolut untragbar. Entweder hatten die inzwischen eine andere Kollektion oder Kathi hatte einen doch sehr anderen Schuhgeschmack als ich.
Jedenfalls bin ich dann einfach noch so etwas herumgelaufen.
Schaufenstergucken.
Es war Ende Februar, einer dieser raren frühen Berliner Frühlingstage. Man wusste genau, der Winter war noch nicht vorbei, garantiert würde es im März oder April noch einmal richtig kalt werden, doch die milde Luft gab einem einen kleinen Frühlingsvorgeschmack. Einfach ein Tag, an dem man gerne in Berlin herumstromerte.
Ich kann nicht mehr sagen, ob ich wirklich gehofft hatte, dass zufälligerweise Len wieder hinter dem Kaufhof am Alex herumstehen würde. Ich vermute, ich habe eher so in die Richtung gedacht, geh einfach mal vorbei, er ist ja eh nicht da.
Doch er war da.
Er stand mit zwei Typen in der schmalen Gasse. Wie bei unserem letzten Treffen an die Betonsäule gelehnt, nur hatte er diesmal kein Bier in der Hand.
Ich habe erst überlegt, ob ich einfach vorbeigehen und hoffen sollte, dass er mich bemerkte und ansprach. Aber das war mir
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