Treffpunkt Irgendwo
über Gentrifizierung, also über die soziokulturellen Veränderungen und Folgen, wenn in einem Viertel mit einer eigentlich ärmeren Bevölkerungsschicht Immobilien luxussaniert werden. Und was es bedeutete, wenn plötzlich Leute mit viel Geld das Gesicht und die Ausstrahlung eines Viertels verändern. Dass dann die alten Leute wegziehen müssen, weil sie sich mit ihrer Rente die neuen Mieten nicht mehr leisten können, und dass doch jedes Viertel eben eine gute Mischung aus Jung und Alt, Arm und Reich sein müsste. Andernfalls würde man Ghettos schaffen und die Stadt aufteilen, in die schönen Bezirke für die Reichen und die hässlichen für die Armen. Ich kannte das schon, mein Vater war eben mit Leib und Seele Lehrer. Englisch, Geschichte/Sozialkunde und Sport in der Sekundarstufe zwei. Er hatte bis vor Kurzem an einer Neuköllner Brennpunktschule unterrichtet, Gesamtschule, dort die höheren Klassen. Doch vor einem halben Jahr hatte er sich an eine Schule hier unten in unserem Bezirk versetzen lassen. Er war Lehrer aus Leidenschaft, wenngleich auch inzwischen manchmal etwas frustriert.
Meine Mutter war auch Lehrerin, aber mit ganz anderen Schwerpunkten. Sie war an einem Berliner Gymnasium in Berlin-Zehlendorf beschäftigt. Biologie, Chemie und Englisch. Die beiden hatten sich damals während des Lehramtsstudiums an der Freien Universität Berlin kennengelernt.
Ich wartete, bis mein Vater seinen Vortrag beendet hatte, stellte anschließend eine kurze Frage im Kontext, bekam erneut einen kleinen Vortrag zu hören und war dann aus dem Unterricht entlassen. Dass ich ihm inzwischen kaum noch richtig zuhörte, bekam er nicht mit. Aber ich kannte ihn eben, er war Lehrer durch und durch und er meinte es ja auch gut. Er wollte, dass ich die Welt verstehe. Deshalb redete er so viel. Ich ließ ihn beim Abendessen oder auf Ausflügen seine unendlich langen Ausführungen machen und war mit den Gedanken meist woanders. Nur die eine Frage war wichtig, sonst lief man Gefahr, selbst gefragt zu werden. Und dann konnte man ganz schnell auffliegen. Mit dieser Methode fuhr ich inzwischen auch gut bei den Lehrern an meiner Schule. Mündlich stand ich immer zwischen Eins und Zwei.
Oben in meinem Zimmer suchte ich online nach weiteren Informationen über die Räumung. Doch auf keinen der Fotos war Len zu sehen, auf einem meinte ich, Ella zu entdecken, aber sicher war ich mir nicht. Auf den diversen Seiten wurde zu einer Solidaritätskundgebung aufgerufen. Die Demo war ordentlich angemeldet und startete am nächsten Tag um 16:00 Uhr am Rosa-Luxemburg-Platz.
Ich spielte für einen Moment mit dem Gedanken, da hinzugehen. Nur hatte ich um diese Zeit Klavier. Und Martina, meine Klavierlehrerin, und ich übten gerade einen Boogie ein, den ich in vierzehn Tagen auf einem kleinen Konzert ihrer Klavierklasse spielen sollte. Ich hatte noch so meine Probleme mit dem Stück. Da ich längst nicht so viel übte, wie ich eigentlich müsste, war jede Unterrichtsstunde bei Martina für mich bitter nötig.
Außerdem, was hätte mein Antanzen bei dieser Demo gebracht. Gut, ich hätte eventuell Len getroffen. Doch wo ich den finden würde, das wusste ich auch so. Am Alex. Und was wäre, wenn die Demo irgendwie gewalttätig werden würde? Das passierte doch ständig. Noch eine Ermittlung gegen mich würde sich garantiert nicht so leicht aus der Welt schaffen lassen.
Ich bin an dem Abend noch lange online gewesen, habe versucht herauszubekommen, wo die Leute aus dem Haus untergekommen sind. Doch vergeblich. Egal was ich anklickte, dazu fand sich rein gar nichts.
Aber wie das mit den Gedanken so ist. Ist eine Idee erst einmal gedacht, dann ist sie in der Welt und es gibt kein Zurück mehr. Und dann konnte man der Idee auch gleich nachgeben.
Ich war nun einmal neugierig.
Ich wollte unbedingt wissen, wo Len gelandet war.
Da ich Dienstag bereits nach der sechsten Stunde Schluss hatte, simste ich meiner Mutter, dass ich zu Mia gehen würde und von dort direkt zu Klavier. Stattdessen jedoch holte ich mir kurz was beim Bäcker, stieg in die S2, fuhr bis Friedrichstraße und von dort Richtung Alexanderplatz. Den Weg fand ich inzwischen ganz ohne Blick auf den Streckenplan der S-Bahn.
Len war tatsächlich wieder in der Seitenstraße. Er sah übel aus. Der Iro komplett platt gedrückt, die Klamotten noch dreckiger als sonst, aber am übelsten fand ich den Einkaufswagen mit Plastiktüten, den er neben sich stehen hatte. Er sah aus wie ein Penner.
Len
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