Treffpunkt Irgendwo
der Kontakt besteht, mit ihm reden, Argumente vorbringen und ihn auf diese Weise schließlich von seinem abweichenden Verhalten abbringen. Das klang so vernünftig und einfühlsam. Und so waren sie auch in der Vergangenheit oft genug mit mir verfahren.
Als ich zum Beispiel vor einem dreiviertel Jahr den S-Führerschein machen wollte: Ole hatte sich ein Quad gekauft und ich wollte damit einfach auch mal fahren. Ich habe erst später kapiert, was meine Eltern da durchgezogen hatten. Was wurde da geredet, was für großes Verständnis hatten meine Eltern zunächst für meinen Wunsch gezeigt. Wir haben zusammen im Internet nach den Voraussetzungen für den Führerschein recherchiert, sind sogar zu einem Motorradladen in die City. Ich durfte Helme aufsetzen, Motorradfunktionsjacken anziehen, das volle Programm. Und dann, einen Abend später, war überraschend ein Kollege meines Vaters zum Abendessen bei uns. Und während des Essens stellte sich heraus, er hatte seinen Sohn durch einen Motorradunfall verloren. Ein links abbiegender Lkw hatte das Motorrad übersehen und Lukas überfahren. Zwei Tage hatte sein Sohn auf der Intensivstation gelegen, dann war er gestorben. Und plötzlich waren wir in einem Gespräch darüber, wie viele Jugendliche jedes Jahr im Straßenverkehr sterben. Auf Mofas, Kleinkrafträdern und Quads. Er zeigte uns Bilder von Lukas. Als er noch gesund war und auch Bilder aus dem Krankenhaus.
Ich bin nie wieder zu Ole auf sein Quad gesessen. Ja mehr noch, er und ich hatten anschließend oft Streit darüber, da ich es nicht einmal mehr richtig ertrug, wenn er damit herumfuhr.
So waren meine Eltern, allen voran mein Vater. Absolut der Manipulator, immer erst einmal auf einen zugehend und dann, quasi hintenherum, doch dafür sorgend, dass alles so lief, wie er es wollte. Ich hatte das bisher immer als einfühlsam empfunden.
Aber diesmal würde ich nicht darauf hereinfallen. Das zwischen Len und mir würden sie mir nicht wegnehmen. Also schloss ich meinen Mund wieder und schwieg.
»Jana, du musst mit uns reden. Wir…« Mein Vater versuchte es erneut. »Wie können wir dir helfen, wenn du uns nicht sagst, was los ist. Bitte.«
Ich schob meinen Stuhl zurück, stand auf und sagte leise: »Ich möchte aber nicht darüber sprechen.«
Dann ging ich einfach hinauf in mein Zimmer.
Vor einiger Zeit war eine Journalistin bei uns. Sie wollte ein Buch schreiben über Jugendliche, die auf der Straße leben. Sie hat uns nach unseren Träumen befragt, wie wir uns die Zukunft vorstellen und so. Ich war an dem Tag gut drauf und habe ihr gesagt, warum nicht. Sie hat mir das Interview später als Text gezeigt und gefragt, ob ich etwas ändern wollte. Aber das war okay so, und selbst wenn ich was korrigiert hätte, was hätte das wirklich verändert.
J: Hast du Freunde?
L: Ja.
J: Was ist Freundschaft für dich?
L: Ein Freund ist jemand, der mich nicht bescheißt.
J: Dem du vertrauen kannst?
L: (lächelt) Ich werde niemandem vertrauen.
J: Wieso nicht?
L: Weil ich erlebt habe, dass jeder an einen Punkt kommen kann, wo er dich bescheißen tut.
J: Aber dennoch sagst du, du hast Freunde.
L: Ja. (grinst erneut) Klar, man darf nur nicht zu viel von seinen Freunden erwarten.
J: Hast du Träume?
L: Jeder Mensch hat Träume. Wer keine Träume mehr hat, ist tot.
J: Was sind deine Träume?
L: (Überlegt etwas, dann mit leiser Stimme) Nichts Besonderes.
J: Magst du sie dennoch erzählen.
L: Ich möchte irgendwo mit meinen Freunden zusammen wohnen. Irgendwo auf dem Land. Im Süden. Meer wäre nicht schlecht, muss aber nicht sein. Ein kleines Haus. (L macht eine Pause, dreht eine Zigarette und zündet sie sich an.) Ich war mal in Spanien. Da war es cool. Alte Olivenbäume. Felder, die Leute irgendwie freundlich. Die Vorstellung, dort mit ein paar Freunden zu leben, hat was. Hunde, Kinder, alle können frei leben, machen, was sie wollen. Kein Stress. Das, was wir brauchen, bauen wir selbst an. Gemüse, Obst und so. Und so dann einfach alt werden.
J: Schule, eine Ausbildung, geregelte Arbeit, eine Familie, käme das auch infrage?
L: Das könnte ich nicht. (blickt erstaunt) Wieso auch?
J: Und deine konkrete Zukunft, wie stellst du dir die vor.
L: Gar nicht.
J: Wie, gar nicht?
L: Weil ich keine Zukunft habe. (grinst) Und selbst wenn ich eine hätte, auch dann würde es nichts bringen, sich darüber Gedanken zu machen.
J: Wieso nicht?
L: Weil alles immer anders kommt. Irgendwas zu planen, bringt nichts. Egal was du
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