Treibgut - 11
eine halbfertige Kopie davon. Doch wiewohl sich die Studien teilweise beträchtlich voneinander unterschieden, hatten sie eines gemeinsam: Dort, am Tisch, wo die Frauenfigur aus dem 64. Draijsch sitzen sollte, saß niemand. Er konnte sie auch auf anderen Teilen der Bilder nicht entdecken.
»Nun, Junge?« fragte Sewarzkis triumphierend.
Scheïjian sprach das Naheliegende aus: »Wenn Ihr sie nicht daraufgepinselt habt, dann muß sie später hinzugefügt worden sein.«
Sewarzkis hüpften schier die Augäpfeln aus den Höhlen. Sein Mund klappte auf und zu und ein befremdliches »Waaa? Waaa?« kam aus seiner Kehle, das nach einigen Wiederholungen zu einem verständlichen »Verstümmelt!« wurde. Jäh verstummte er und blickte sich gehetzt in dem firunsstillen Atelier um. Genauso jäh verfiel er in neues Gebrüll. »Verräter! Meuchler! Neider!« Und er stürzte wie die verkörperte Rachsucht auf seine Gehilfen zu. Sie reagierten höchst auffällig, indem sie sich in den Staub warfen und ihre Unschuld beteuerten. Das nahm dem Wüterich den Wind nicht aus den Segeln, sondern lenkte nur seine Schritte in eine andere Richtung, nämlich in eine Ecke des Ateliers, wo eine langstielige Axt lehnte. Er ergriff sie, schwang sie über dem Kopf, und unentwegt alle Welt des Verrats und Neids bezichtigend, rannte er damit zu dem Gestell, um sein neuestes Werk zu vernichten. Obwohl er nur ein kleiner alter Mann war, bedurfte es der gemeinsamen Anstrengung seiner drei Schüler und Scheïjians, ihm die Axt zu entwinden. Während zwei von ihnen das jetzt schluchzende Bündel wegführten, wandte sich der dritte an Scheïjian. »Ihr geht nun besser. Der Meister ist etwas ungnädig.«
Scheïjian eilte aus dem Atelier, wo ihn draußen die Pagin bereits erwartete. »Wir gehen zur Herberge!« erklärte er. Wortlos folgte sie ihm.
Als Scheïjian die gemeinsame Kammer betrat, war Ishajid gerade dabei, eine recht frische, nicht sehr tiefe, doch mehrere Finger lange Schnittwunde am Oberschenkel zu versorgen. Der Verschorfung nach konnte die Verletzung nicht älter als zwei oder drei Stunden sein. Er warf sich auf die freie Bettstelle und schaute schweigend zu ihr hinüber.
»Nicht sehr schlimm«, erklärte die Priesterin. »Der Kratzer wird mich nicht sonderlich behindern. Ich zog ihn mir heute morgen zu, als ich zu noch sehr früher Stunde durch die Stadt ging. Dabei traf ich zwei Männer, die offenbar auf mich gewartet hatten. Sie behaupteten, mein Gehilfe, also du, habe nach mir geschickt. Ich folgte ihnen, auch wenn mir das Ganze wegen deiner vorherigen Unwilligkeit, mir zu erzählen, was du auf der Burg wolltest, aranisch vorkam. Glücklicherweise war mein Schnitter dabei, denn kaum hatten wir die Stadt durch das Osttor verlassen, als sich drei weitere Männer zu uns gesellten und es auf einmal nicht mehr hieß, mein Gehilfe habe sie geschickt, sondern nur schnöde: ›Mitkommen!‹«
»Was waren das für Gesellen?« warf Scheïjian ein.
»Ich habe sie nicht gefragt«, antwortete die Priesterin und zog das Gewand über das verletzte Bein. »Die ersten waren uniformiert wie Stadtwachen, die anderen sahen nicht anders aus, als man hier eben aussieht. Es hätte sich auch nicht gelohnt, ihre Bekanntschaft zu machen, da ich vier von ihnen auslöschte, worauf der fünfte floh.«
Scheïjian stemmte sich mit den Unterarmen auf und schaute eindringlich zu der Priesterin hinüber: »Vier?«
Sie deutete mit dem Kopf flüchtig auf ihren Schnitter: »Ich erklärte dir bereits, daß ich eine gewisse Übung damit habe.«
»Und die Leichname?«
»Ich warf sie in den Fluß. Mittlerweile dürften sich die Fische des Meeres an ihren Kadavern ergötzen. Ich wollte keinen weiteren Ärger. Meinst du immer noch, du hättest mir nichts zu erzählen? Nicht, daß es viel daran ändern würde, wenn man einmal seiner Wiedergeburt entgegengeht, aber es macht einen doch neugierig, warum einem jemand dazu verhelfen will, meinst du nicht?«
Scheïjian starrte grübelnd zur Decke. Er überlegte, warum Ishajid zu so früher Stunde bewaffnet unterwegs gewesen sein mochte und ob die Hohe Schwester in Tuzak mit derartigen Vorfällen gerechnet hatte. Ob das ihr Grund gewesen war, ihn zu beauftragen. Ihre Worte fielen ihm ein: ›Du hast gelernt, zurückzukehren.‹ Wer mochte wissen, was ihr dieser Prinz Kasparbald während seiner Anwesenheit in Tuzak über sein Land erzählt hatte. Er hätte damals nachfragen sollen! Jetzt erinnerte er sich daran, was ihm seine
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