Treibhaus der Träume
Ihnen die Kosten mit monatlich zweihundert Mark abzuzahlen. Wenn das geht …«
»Darüber reden wir später«, sagte Lorentzen.
Evelyn Heinzel sah auf ihre gefalteten Hände. »Sie fragen gar nicht, warum ich mich operieren lassen will.«
»Sie haben es satt, herumzuhumpeln.«
»Nein. Auch daran gewöhnt man sich. Es ist … es ist wegen eines Mannes.« Evelyn Heinzel atmete tief auf. Nun war es heraus. »Eine Freundin in der Fabrik hatte eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben. Sie wissen: Hübsche Zwanzigerin sucht wegen späterer Ehe und so weiter … Sie bekam dreißig Zuschriften. Als sie ihren Freund ausgesucht hatte, gab sie die anderen Briefe mir und ich schrieb einem jungen Mann, der mir auf dem Bild gefiel. Er ist sportlich, hat einen Wagen, studiert Architektur … ein wundervoller Mann. Und wir schrieben uns, und es wurde immer mehr in den Briefen, und dann schrieb er mir: Ich habe mich in Dich ehrlich verliebt. Dein Bild steht auf meinem Nachttisch. Ich will Dich heiraten. Wann treffen wir uns …?« Evelyn senkte den Kopf und bedeckte mit beiden Händen die Augen. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll …«
Dr. Lorentzen beugte sich vor und legte beide Hände auf ihre zuckenden Schultern.
»Sie haben ihm nicht geschrieben, daß Sie ein kürzeres Bein haben, nicht wahr?«
»Nein! Nein! Nein!« schrie sie in ihre Hände. »Es wäre doch alles aus gewesen … alles … die schönen Briefe … das Gefühl, geliebt zu werden … O nein …«
Dr. Lorentzen nickte. Er streichelte ihr über die langen, blonden Haare, und er kam sich vor, als sitze dort sein eigenes Kind.
»Ich operiere Sie«, sagte er fest. »Ich wage es.«
»Herr Doktor!« Das war ein Aufschrei. Evelyn streckte ihm beide Arme entgegen. »Es wird nicht alles vorbei sein?«
»Nein.« Lorentzen holte tief Luft. »Aber Sie werden sich mit einem abfinden müssen: Sie werden vier Zentimeter kleiner werden …«
Die Operation wurde so gründlich vorbereitet wie kaum eine andere. Nicht nur Dr. Lorentzen und Dr. Thorlacht maßen und rechneten – sie holten auch aus München extra einen Röntgenologen in die Almfried-Klinik, um bloß keinen Fehler zu machen.
Über die Kosten sprach Lorentzen nicht. Als Evelyn Heinzel davon anfing, winkte er sofort ab.
»Ein Patient, Dr. Braubach, hat eine Stiftung ins Leben gerufen, die es uns erlaubt, Fälle wie Sie kostenlos zu behandeln. Machen Sie sich keinerlei Gedanken, Evelyn. Freuen Sie sich darauf, bald wieder wie ein normaler Mensch gehen zu können.«
»Das ist wie in einem Märchen«, stammelte Evelyn glücklich.
»Aber ein langes Märchen. Wir müssen viel, viel Geduld haben …«
Die Vorbereitungen waren eine fast mathematische Arbeit, so einfach die Operationsaufgabe klang: Ein Bein war acht Zentimeter kürzer als das andere. Man verkürzte also das gesunde Bein um 4 Zentimeter und transplantierte das Knochenstück in das kranke Bein. So wurden beide Beine gleich lang, der Patient aber 4 Zentimeter kleiner. Bei Evelyn Heinzel war das kein Problem, sie war groß und schlank, und ihr Oberkörper war im Vergleich zu den Beinen zu kurz, so daß die Operation neben der Beingleichheit auch eine bessere Proportion des Körpers herstellte.
Wie nüchtern und klar so etwas klingt. Und wie schwierig ist es doch.
»Wir müssen alle Faktoren durchgehen, Thorlacht«, sagte Lorentzen. Die Röntgenbilder der linken Hand Evelyns und des Beckenkamms waren in den Lichtkasten eingespannt. Daneben das große Röntgenbild des gesamten Beinskeletts. »Evelyn ist achtzehn Jahre alt. Stimmt das Kalenderalter mit dem Knochenreifungsalter überein? Wächst sie noch, oder ist das Wachstum abgeschlossen? Also dann, rechnen wir …«
Sie saßen vor dem Röntgenbild der linken Hand und maßen die Längen der einzelnen Fingerglieder. Diese Längen verglichen sie mit Abbildungen in einem Spezialatlas und schrieben die Differenzen auf, die sich ergaben. Man kann nämlich an den einzelnen Fingergliedern das Knochenreifungsalter feststellen, das bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr stattfindet.
»Kaum nennenswerte Unterschiede«, sagte Dr. Thorlacht und verglich das Röntgenbild mit dem Spezialatlas. Lorentzen nickte. Er saß über der Wachstumstabelle von Green-Anderson und verglich die errechneten Werte. Der Längenunterschied am Ende des Wachstums war kaum merkbar. Ein paar Millimeter vielleicht.
»Weiter.«
Das Röntgenbild des Beckenkamms leuchtete auf. Mit großer Spannung sah Dr. Thorlacht seinem Chef und
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