Treibhaus der Träume
Jahre ist man alt, dachte er. Und wie jung kann man noch sein …
Der nächste bitte!
Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau trat ein. Lorentzen erhob sich und kam ihr entgegen. Mit einem Blick sah er, warum sie zu ihm gekommen war. Der Körper, der Kopf, die Haare, der Mund, die Augen … alles war jung an ihr. Und doch erschrak man, wenn man sie anblickte.
Unter den hellen, blauen, schönen Augen hingen dicke Tränensäcke. Sie waren so schwer, daß sie das untere Lid mit herunterzogen und einen Teil der rötlichen Schleimhaut freilegten. Das ganze Gesicht war durch sie entstellt. So sieht eine ewig besoffene Greisin aus, dachte Lorentzen. Es muß furchtbar sein, mit solchen großen faltigen Tränensäcken herumzulaufen, vor allem, wenn alles an diesem Körper vollendet in der Form ist – die Beine, die Hüften, der Rumpf, die Brüste, die Schultern, der Hals, die langen, kastanienbraunen Haare.
Auf der Karte, die die Schwester hereinbrachte, stand: Erna Mittelhardt. 26 Jahre. Lehrerin.
»Guten Tag«, sagte Lorentzen freundlich und lächelte wie ein guter Freund. Ein solcher wollte er für seine Patienten auch sein. Vertrauen, das ist schon die halbe Heilung. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Erna Mittelhardt wartete, bis die junge Vorzimmerschwester das Sprechzimmer verlassen hatte, dann senkte sie den Kopf, als schäme sie sich auch hier.
»Sehen Sie mich doch an, Herr Doktor«, sagte sie leise. Mit gesenktem Kopf ging sie zu dem Sessel, der ihr am nächsten stand, und ließ sich hineinfallen. Mit beiden Händen verdeckte sie ihr Gesicht. »Es ist furchtbar, was ich im letzten Jahr mitgemacht habe. Ich bin mit den Nerven völlig am Ende.« Sie hob den Kopf, aber verdeckte ihr Gesicht immer noch mit beiden Händen. Durch die Fingerspitzen, wie eine Lepraentstellte, sah sie Lorentzen an. »Verzeihen Sie, Herr Doktor … aber ich bin sonst nicht hysterisch. Es ist einfach zuviel gewesen in den vergangenen Monaten.«
»Die Tränensäcke.« Dr. Lorentzen setzte sich Erna Mittelhardt gegenüber. Ganz behutsam zog er ihre Hände vom Gesicht. Mit zitternden Augen starrte sie ihn an, und dann begann sie leise, mit zusammengebissenen Zähnen zu weinen.
Lorentzen wartete eine Weile, bis sich ihre Erregung gelegt hatte. »Es ist doch gar kein Problem, so etwas wegzuoperieren«, sagte er mit väterlicher Stimme. »So etwas kann man sogar ambulant machen.«
»Nein. Nein. Ich habe Zeit. Ich habe jetzt Ferien.« Erna Mittelhardt sah Lorentzen flehend an. Die Tränen rannen ihr über die faltigen Hautsäcke und tropften davon ab wie von nassen, zusammengeknüllten Lumpen. Es sah wirklich deprimierend aus. »Wenn Sie mir helfen können, Herr Doktor … ich bleibe, so lange Sie wollen. Ich kann sechs Wochen bleiben. Ich habe gespart für diese Operation … ich kann es bezahlen …«
»Die Kosten sind gering, Fräulein Mittelhardt. Hinterher werden Sie lachen und den Kopf schütteln, wie einfach alles war. Ich operiere Sie übermorgen vormittag, und schon am Nachmittag können Sie, mit einer Sonnenbrille auf der Nase, Spazierengehen … ohne Tränensäcke.«
»Wenn das wahr ist … wenn das wahr ist …« Erna Mittelhardt sprang auf. Ihr vom Weinen noch zuckendes Gesicht leuchtete wie verklärt. »Was ich durchgemacht habe, Herr Doktor. In der Schule. Kinder können so grausam sein, wie kleine Raubtiere sind sie … sie zerfleischen einen stückweise. ›Da kommt die Eule!‹ riefen sie auf dem Schulhof, wenn ich zum Dienst kam. ›Mein Papa sagt, das kommt vom Saufen‹, hörte ich einen Jungen während der Pause zu einem anderen sagen. Es war die Hölle. Und dabei trinke ich keinen Tropfen Alkohol. Nur Fruchtsäfte. Bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich ein hübsches Gesicht. Dann plötzlich traten die Tränensäcke hervor, von Monat zu Monat schlimmer. Ich habe alles, was man mir an Cremes empfahl, auf die Lider geschmiert. Ich habe Packungen gemacht, Massagen, Bestrahlungen …«
»Alles sinnlos«, sagte Dr. Lorentzen. »Damit halten Sie das nie auf.«
»Das habe ich gesehen. Schließlich war ich so weit, daß ich jeden Morgen weinte, bevor ich in die Schule ging … weinte aus Angst vor den Kindern, die mich heimlich ›Suff-Erna‹ nannten. Ich kaufte mir große Brillen, aber die Tränensäcke hingen darunter heraus. Es sah noch schrecklicher aus. Dann konnte ich nicht mehr, ich blieb zu Hause, und der Rektor und auch die Kollegen fragten nicht nach mir. Aber hintenherum erfuhr ich, daß sie beim
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