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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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wahrscheinlich so, dachte Arkadi.
    Eva hatte nichts Liebliches. Ihr blasser Teint und ihr schwarzes Haar - schwarz wie das Gefieder des Kormorans, wie Wasser in der Hand - bildeten einen seltsamen Kontrast. Ihre Augen wirkten wie dunkle Spiegel. Ihr Körper sah abgezehrt aus, besaß jedoch die Spannkraft eines Bogens, und für Arkadis Geschmack hätte sie sich glänzend als Kobold geeignet, der in der Hölle mit einer Mistgabel langsame, aufgedunsene Sünder antrieb. Eigentlich hätte sie aus einem brennenden, Lava speienden Land stammen müssen. Dann ging ihm auf, dass sie das in gewisser Weise ja auch tat.
    Sie lag auf dem Bett wie ein Patient auf dem Untersuchungstisch und führte seine Hand, so dass deren Innenfläche kaum ihre Haut berührte.
    »Die Zone ist die nächste Stufe in der Evolution«, sagte sie.
    »Du hast mit Alex gesprochen.«
    »Ja, aber er weiß, wonach er suchen muss, und du nicht. Nach einer Gaumenspalte.« Zu ihrem Mund. »Einer Hasenscharte.« Zu der Narbe an ihrem Halsansatz. »Schilddrüsenkrebs.«
    »Wir müssen das nicht tun.«
    »Aber wir tun es.«
    Über ihre Brust. Sie drängte zu seiner Hand. »Ein Tschernobyl-Herz, das heißt buchstäblich ein Loch im Herz.« Sie ließ seine Finger über ihre Rippen wandern. »Knochen und Knochenmark. Leukämie.« Und tiefer. »Krebs der Bauchspeicheldrüse und der Leber.« Zu dem krausen schwarzen Schamhaar.
    »Krebs der Fortpflanzungsorgane. Ganz zu schweigen von der Vielzahl der Tumore und Mutationen, einem fehlenden Arm hier, einem fehlenden Bein dort, Blutarmut, Lähmungen, Schwachsinn. Ich möchte nur, dass du weißt, womit du es hier zu tun hast.«
    »Ich lerne.«
    »Damals bei dem Unfall, als die Leute erfuhren, was passiert war, verhielten sie sich nicht sehr nobel. Die Züge wurden gestürmt, keiner konnte schnell genug aus Kiew herauskommen. Jodtabletten wurden gehortet, aber zu dem Zeitpunkt wirkten sie sowieso nicht mehr, es war zu spät. Alle betranken sich, und jeder bumste mit jedem. Wenn du wissen willst, wie die Menschen sich verhalten werden, wenn die Welt untergeht, hier konnte man sich ein Bild davon machen. Die Bewohner von Tschernobyl und Pripjat wurden aufs Land verteilt, aber sie waren nirgendwo erwünscht. Wer will schon einen verstrahlten Menschen im Haus, damals wie heute? Die Leute kamen schnell dahinter, wer wir waren. Sie brauchten uns nur zu fragen, wie alt wir waren und woher wir stammten. Ich mache ihnen daraus keinen Vorwurf. Bleibst du über Nacht?«
    »Ich muss noch mal kurz weg, aber ich komme wieder.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Aber eine Frage hätte ich noch. Wann wurde das letzte Enkelkind auf dem Dorffriedhof begraben? Und wessen Enkelkind war es?«
    »Ist doch unwichtig. Alle haben dort ein Enkelkind begraben.«
    »Obwohl es verboten ist?«
    »Ihr ganzes Leben in der Zone ist verboten.«
    »Sagt dir der Name Obodowski etwas?«
    »Nein, und jetzt Schluss mit der Fragerei.« Sie nahm wieder seine Hand und zeichnete noch einmal den Weg von ihrem Mund zu ihrer bebenden Brust und weiter zu der sanften Rundung ihrer Hüfte. »Ich werde dich verführen«, flüsterte sie.
    »Und danach wirst du so erschöpft sein, dass du dich nicht mehr vom Bett erheben kannst.« Sie hob den Kopf, als er in sie eindrang, küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund und hielt ihn so fest, als hieße loslassen von der Oberfläche der Erde fallen. »Weißt du, was ich möchte?«
    »Was?«
    »Ich möchte, dass die Toten verschwinden.«
    »Beachte sie nicht.«
    »Ich kann nicht.«
    »Gemeinsam fällt es uns leichter.« Nach einer Minute sagte sie. »Du hast Recht. Viel leichter.«
    »Deswegen bin ich hier.« Das war er, ja, das war er.
    In Pripjat wurde Lichtgeschwindigkeit so langsam wie ziehende Nebel. Arkadi war pünktlich um zehn mit seinem Motorrad zur Stelle, und in den folgenden zwanzig Minuten vernahm er immer wieder ein Schlurfen oder sah einen Schatten vorbeihuschen. Offenbar wollten sich die Woropai-Brüder vergewissern, dass er allein gekommen war.
    Gegenüber säumten die Gerippe von Rathaus, Hotel, Restaurant und Schule den Platz. Der Mond schnitt aus Straßenlaternen groteske Figuren und verwandelte das Riesenrad des Rummelplatzes in eine riesige Antenne. Andere Kulturen hinterließen nach ihrem Untergang wenigstens eindrucksvolle Monumente. Die Gebäude von Pripjat waren, eines wie das andere, Fertigbauruinen.
    Plötzlich wuchs Dymtrus Woropai neben Arkadi aus dem Boden und sagte: »Lassen Sie das Motorrad stehen, und folgen

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