Treue Genossen
>Hinterlässt einen Sohn, den Radioökologen Alexander Gerasimow.<«
Eine Selbstmordtradition in der Familie, das war die Gemeinsamkeit zwischen Alex und Arkadi. Eva hatte es sofort bemerkt. »Von wann ist der Artikel aus der Iswestija?«
»Vom zweiten Mai. Am ersten Mai hat man ihn gefunden.«
Sieh mal einer an, dachte Arkadi. Eben noch ist Felix Gerasimow der angesehene und mit Auszeichnungen überhäufte Direktor eines wissenschaftlichen Instituts, das so glänzend ausgestattet ist, dass es mitten in Moskau einen eigenen Forschungsreaktor betreiben kann, einen Reaktor, den sich der politisch gewiefte Karrierist nicht nur durch bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der theoretischen Physik, sondern auch durch seine Bereitschaft verdient hat, sich mit praktischen Problemen der Atomwirtschaft zu beschäftigen wie der Verseuchung eines Testgeländes und einem Explosionsunglück im Hinterland. Und dann bricht das politische System zusammen. Die Kommunistische Partei ist ebenso im Eimer wie Reaktor vier. Der Geldhahn wird zugedreht. Der Direktor und sein Personal, darunter Iwanow und Timofejew, müssen sich im Institut in Wolldecken wickeln und heimlich »heißes« Wasser entsorgen. Das waren in der Tat genug Turbulenzen für eine berufliche Laufbahn.
»Arkadi, bist du noch dran?«
»Ja. Ruf Petrowka an …«
»In Moskau?«
»Ja. Ruf im Hauptquartier an und stelle fest, ob es eine Akte über einen Selbstmordversuch des Sohnes, Alexander, gibt.«
»Wie kommst du darauf, dass sie eine haben könnten?«
»Weil sie eine haben. Hast du herausgefunden, was er in seiner freien Zeit in Moskau macht?«
»Fehlanzeige. Ich habe auf Bobbys Kosten jedes größere Hotel in Moskau angerufen. Neun haben ein Businesscenter, in dem Übersetzer und Dolmetscher, Computer und Faxgeräte zu Verfügung stehen. Aber in keinem ist ein Alex Gerasimow beschäftigt. Eine Sackgasse, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ljuba meint übrigens, dass du mich ausnutzt.«
»Genau, deswegen bist du in Kiew, und ich bin in Tschernobyl. Hast du Anton gesehen?«
»Ich habe meine Notizen hier.« Das Rascheln fallenden Papiers. »Verdammte Scheiße! Ja, leck mich doch …! Ich ruf zurück.«
Arkadi kam zu dem Schluss, dass Viktor und die Stille einer Bibliothek nicht unbedingt füreinander geschaffen waren. Er blickte zu der Puppe im Fenster. Ihr Gesicht war ausgebleicht, doch die Konturen und der Pferdeschwanz aus Goldfäden waren geblieben, und dann entdeckte er ein Regal mit weiteren Puppen, als sei das Haus einer zweiten, kleineren Familie anvertraut worden. Der Torweg lockte ihn zur Tür. Aus der Nähe erkannte er, dass Spinnweben an den Armen der Puppe klebten. Er entfernte sie, und als sein Handy klingelte, meinte er zu sehen, wie die Puppe zusammenzuckte.
»Hallo Viktor«, meldete sich Arkadi, »weiter im Text.«
»Wer ist Viktor?«, fragte eine heisere Stimme.
»Ein Freund«, antwortete Arkadi.
»Ich wette, Sie haben nicht viele. Wie ich höre, haben Sie einen Erschossenen aus dem Kühlsee gezogen.«
Arkadi fing noch einmal von vorn an. »Hallo, Karel.«
Es war Katamai, der vermisste Milizionär. Staubteilchen wirbelten um die Puppe herum, als atme sie.
»Ich möchte mit Ihnen über den Russen reden, den Sie gefunden haben, nichts weiter«, erklärte Arkadi und wartete. Die Pausen waren so lang, dass er fast das Gefühl hatte, mit Schenja zu sprechen.
»Ich möchte, dass Sie meine Familie in Ruhe lassen.«
»Das werde ich, aber ich muss mit Ihnen reden.«
»Das tun wir doch gerade.«
»Nicht am Telefon. Nur über den Russen, nur deswegen bin ich hier, und dann kann ich nach Hause fahren.«
»Zu Ihrem Freund Wayne Gretzky?«
»Ja.«
Ein Hustenanfall, und dann: »Als ich das hörte, habe ich mich halb totgelacht.«
»Dann werde ich Ihren Großvater und Ihre Schwester nicht mehr belästigen, und Dymtrus bekommt seine Waffe zurück.«
Eine längere Pause.
»Pripjat, auf dem Hauptplatz, um zehn heute Abend. Allein.«
»Einverstanden«, sagte Arkadi, allerdings zu einem Freizeichen.
Im nächsten Augenblick rief Viktor an. »Also, Anton war in mehreren Kasinos am Fluss.«
»Was macht er denn so lange dort?«
»Keine Ahnung. Galina hat diesen kurzen Rock getragen.«
»Verschone mich.« Arkadi war in Gedanken noch halb bei Katamais Anruf.
»Mensch, wir können froh sein, dass es die Kleine gibt, sonst hätte ich Anton nie entdeckt. Er holt sie jeden Tag von der Arbeit ab wie ein richtiger Gentleman. Gestern war er mit ihr
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