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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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der nasse Holzkohle lag und aus der noch leichter Rauch aufstieg, war der Federkern einer Matratze gelegt. Das Ganze hatte offensichtlich als Grillrost gedient. In einem aufgeklappten Koffer lagen eine Zahnbürste, Zigaretten, Angelschnur, eine Dose Rindfleisch und ein Plastikflasche Mineralwasser, ein Rohrschneider und ein in Lappen eingewickelter Schraubenschlüssel. Hätte ihr Besitzer der Versuchung widerstanden, an der Decke vorbei aus dem Fenster zu spähen, hätte Arkadi ihn niemals bemerkt. Jetzt entdeckte er ihn am Rand des Platzes.
    Er eilte die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hüpfte über einen umgestürzten Schreibtisch, stolperte über einen Haufen zerknitterter brauner Gardinen. Manchmal fühlte er sich wie ein Taucher, der den Bauch eines versunkenen Schiffes erkundete. Die Dunkelheit schärfte seine Augen und Ohren. Im Erdgeschoss angekommen, hörte er, wie am anderen Ende des Platzes eine Fliegentür zugeschlagen wurde. Die Schule.
    Zwischen den beiden Vordereingängen der Schule hing eine Schiefertafel, auf der »29. April 1986« stand. Arkadi rannte durch einen Garderobenraum, dessen Wand mit einem Schiff bemalt war, in dem eine Prinzessin und ein Nilpferd saßen. Die Zimmer im Erdgeschoss waren für die unteren Klassen, mit Schönschreibtafeln und bunten Drucken von glücklichen Kühen und Bauernkindern, die zwischen eingeworfenen Fensterscheiben und umgekippten Tischen, die wie Barrikaden aussahen, lächelten. Im Stockwerk darüber polterten Schritte. Arkadi stieg die Treppe hinauf. Bilder von Schülern, die ordentlich in einem Musiksaal saßen, führten in einen realen Musiksaal mit einem zertrümmerten Klavier und Kinderstühlen, die kaputte Trommeln und Xylophone umringten. Bei jedem Schritt wirbelte feiner Staub auf, den er einatmete. In einem Schlafraum standen Bettgestelle in einem seltsamen Winkel zueinander, als wären sie bei einem ausgelassenen Tanz ertappt worden. Bilderbücher lagen aufgeschlagen da: Onkel Iljitsch beim Besuch eines verschneiten Dorfes, Schwanensee, der Maifeiertag in Moskau. Wieder hörte Arkadi eine Tür schlagen. Er rannte eine zweite Treppe hinunter, die zu dem anderen Ausgang führte. Er musste seine Schritte bremsen und sich einen Weg durch einen Haufen Gasmasken in Kindergröße bahnen. Sie waren kistenweise geliefert und in der Panik ausgekippt worden. Die Masken hatten die Form von Schafsköpfen mit runden Augenfenstern und Gummischläuchen. Arkadi stürmte zur Tür hinaus. Zu spät. Er leuchtete mit der Taschenlampe über den Platz, sah aber nichts.
    Allerdings war »nichts« nicht ganz das richtige Wort, denn der Platz war voll von Cäsium, Strontium, Plutonium oder hundert verschiedenen Isotopen, die sich, nicht größer als ein Mikrobild, hier und dort verbargen. Ein Hotspot war nämlich, wie der Name schon sagt, nicht größer als ein Fleck. Und es war sehr gefährlich, ihm zu nahe zu kommen. Ein einziger Schritt machte sehr viel aus. Das Problem bei Cäsium war beispielsweise, dass ein solcher Fleck nicht nur mikroskopisch klein wie Fliegendreck, sondern auch wasserlöslich war und überall haften blieb, bevorzugt an Schuhsohlen. Gras, das brusthoch aus Ritzen im Asphalt spross, ließ das Dosimeter schneller ticken. Am anderen Ende des Platzes, von der Schule aus gesehen, war ein kleiner Rummelplatz mit Kinderkarussell, Autoscooterbude und einem Riesenrad, das wie eine verrottende Dekoration in die Nacht ragte. Die Werte bei den Autoscootern brachten die Anzeigennadel zum Anschlag und das Dosimeter zum Singen.
    Arkadi kehrte in das Hotelzimmer mit dem Federkerngrill zurück, schrieb seine Handynummer auf einen Zettel, malte das universale Dollarzeichen dahinter und beschwerte den Zettel mit einer Dose Rindfleisch.
     
    Arkadi hatte an einem Erlenhain sein Motorrad abgestellt. Er war kein geübter Fahrer, aber im Gegensatz zu einigen Luxusmaschinen verzieh eine Uralmoto Fehler. Im Zickzack fuhr er auf die Schnellstraße und ohne Licht aus der Stadt hinaus.
    Dieser Teil der Ukraine war Steppe, flaches, von Bäumen eingefasstes Land, und der Mond schien so hell, dass die Kiefern zu beiden Seiten der Straße aus dem Dunkel hervortraten. Die Bäume waren abgestorben und hatten sich am Tag nach dem Unglück rot verfärbt. Sonst erstreckten sich nur Wiesen und Felder bis zu den Reaktoren.
    Der Tod hatte hier so reiche Ernte gehalten, dass es sogar einen Autofriedhof gab. Arkadi fuhr an die Seite und hielt neben einem Zaun. Der Zaun

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