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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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verwischen, schaltete es ein und beobachtete, wie die Ziffern der Digitalanzeige auf 10000 cpm schnellten. Von seiner Ausbildung bei der Armee wusste er noch, dass der Durchschnittswert für radioaktive Hintergrundstrahlung bei 100 cpm oder Impulsen pro Minute lag. Je näher er das Gerät an das Salz hielt, desto höher kletterte der Wert. Bei 50 000 cpm blieb die Anzeige hängen.
    Arkadi trat rückwärts aus dem Schrank. Seine Haut kribbelte, sein Mund war trocken. Er dachte daran, wie Iwanow im Aufzug die Aktentasche an sich gedrückt und einen letzten Blick in die Kamera geworfen hatte. Jetzt verstand er sein Zögern. Er hatte auf der Schwelle all seinen Mut zusammengenommen. Arkadi schaltete das Dosimeter so lange aus und ein, bis es wieder auf Null stand, dann unternahm er einen Rundgang durch Paschas schöne weiße Wohnung. Bei jedem Schritt bewegten sich die Werte dramatisch nach oben oder unten. Wie ein Blinder mit Stock tastete er sich um Flammen herum, die er nur durch das Dosimeter wahrnahm. Das Schlafzimmer brannte, das Arbeitszimmer brannte, das Wohnzimmer brannte, und die Vorhänge, die sich am offenen Fenster im Nachtwind bauschten, wiesen den kürzesten Weg aus dem unsichtbaren Feuer.
    Die Stadt Pripjat, einst als funktionelle Industriestadt für Atomarbeiter erbaut, schimmerte im Licht des aufgehenden Mondes. Vom obersten Geschoss der Gemeindeverwaltung blickte Arkadi über den zentralen Platz, der so groß war, dass er am Maifeiertag, am Jahrestag der Revolution oder am Internationalen Frauentag die gesamte Einwohnerschaft hatte aufnehmen können. Hier waren Reden gehalten, patriotische Lieder gesungen, Tänze aufgeführt, von hübsch herausgeputzten Kindern Blumen in Zellophan überreicht worden. Gesäumt wurde der Platz von den breiten Fassaden eines Hotels, eines Restaurants und eines Theaters. Alleen strebten zu Wohnblöcken, bewaldeten Parks, Schulen und dem nur drei Kilometer entfernten Reaktor, dessen rotes Leuchtfeuer unablässig brannte.
    Arkadi schlüpfte in das Dunkel des Büros zurück. Er hatte sich nie eingebildet, bei Nacht besonders gut sehen zu können, doch er erkannte immerhin, dass Kalender und Papiere auf dem Boden verstreut lagen, zerbrochene Neonröhren, umgestürzte Aktenschränke, dazwischen ein Knäuel von Decken und leere Wodkaflaschen. Ein Plakat an der Wand verkündete eine Botschaft, die sich in verblassten Lettern verlor. »Zuversichtlich in die Zukunft …« war alles, was er entziffern konnte. In seinem militärischen Tarnanzug war er selbst ziemlich schwer zu sehen.
    Das Aufflammen eines Streichholzes lockte ihn wieder ans Fenster. Wo es entzündet worden war, vermochte er nicht zu sagen. Die Häuser standen leer, die Straßenlaternen waren kaputt. Die Wälder rückten immer näher, und wenn der Wind abflaute, wurde es totenstill in der Stadt. Jetzt war kein Auto, kein Schritt zu hören. Nirgendwo in der Stadt war ein menschliches Lebenszeichen auszumachen, bis sich direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, in der dunklen Masse des Hotels die orangefarbene Knospe einer Zigarette bewegte.
    Arkadi musste im Treppenhaus eine Taschenlampe benutzen, denn überall lagen Bücherschränke, Stühle, Vorhänge und Flaschen, immer wieder Flaschen, und alles war mit den kalkigen Rückständen sich auflösenden Putzes überzogen, der Stalaktiten und Stalagmiten wie in einer Höhle bildete. Selbst wenn es Strom gegeben hätte, die Aufzüge waren eingerostet. Von außen mochte ein Gebäude unbeschädigt erscheinen, innen sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Eingestürzte Wände, geplatzte Wasserrohre, vom Eis aufgeworfene Fußböden.
    Unten angekommen, knipste Arkadi die Taschenlampe aus und ging mit federnden Schritten um den Platz herum. Vor die Eingangstür des Hotels war eine Kette gelegt. Egal, er trat durch die fehlenden Glasscheiben, schaltete die Lampe wieder ein, durchmaß die Empfangshalle und umkurvte so leise wie möglich die Servierwagen, die sich auf der Treppe türmten. Im dritten Stock standen die Türen offen. Schemenhaft waren Betten und Tische zu erkennen. In einem Zimmer hatte sich die Tapete gelöst und hing in eingerollten Streifen von der Wand, in einem anderen lag der elfenbeinfarbene Torso einer Toilettenschüssel auf dem Teppich. Der beißende Geruch eines gelöschten Feuers stieg ihm in die Nase. In einem dritten Zimmer hing eine Decke vor dem Fenster. Arkadi zog sie beiseite und ließ das Mondlicht herein. Über eine Radkappe, in

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