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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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jede Bewegung in den Bäumen oder im hohen Gras den Anschein von Leben, bis Arkadi die Stille in Türen und Fenstern bemerkte und begriff, dass das Geräusch, das von Block zu Block wanderte, der sich fortpflanzende Widerhall seines Motorrades war. Manchmal stellte er sich vor, dass Pripjat keine Geisterstadt war, sondern Niemandsland zwischen zwei Armeen, eine Arena für Heckenschützen und Patrouillen. Vom Hauptplatz aus fuhr er auf einer Allee, deren schwarzer Belag sich langsam hob, zum städtischen Stadion und auf einer anderen zwischen kopflosen Straßenlaternen wieder zurück. Von Anfang an hatten Wandgemälde mit Motiven aus Wissenschaft und Arbeit in Pripjat Behördenfassaden geschmückt. Jetzt blätterte die Farbe ab.
    Eine Bewegung an einem Eckfenster veranlasste Arkadi, in Richtung eines Wohnblocks abzubiegen. Er stellte das Motorrad ab, stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf und trat in ein Wohnzimmer mit Tapeten an den Wänden, einem Sessel mit verstellbarer Rückenlehne, einer Sammlung von Karaffen. In einem Schlafzimmer türmten sich Kleider. Das Zimmer eines kleinen Mädchens war ganz in Rosa gehalten, an der Wand hingen schulische Auszeichnungen und ein Paar Schlittschuhe. Im Zimmer eines Jungen krümmte sich ein feingliedriges Skelett in einem Glasbehälter, über dem Ferrari- und MercedesPoster hingen. Überall lagen Fotografien herum, Farbbilder von einem Urlaub mit Wohnwagen in Italien und ältere Porträtaufnahmen in Schwarz-Weiß einer früheren Generation von Männern mit Schnauzbärten und Frauen in hochgeschlossenen Kleidern. Die Fotos sahen so aus, als sei auf ihnen herumgetrampelt worden, was auf einen heftigen Streit schließen ließ. Eine Puppe, die an einer Schnur baumelte, schlug leicht gegen den Rahmen eines zerbrochenen Fensters. Das war die Bewegung, die Arkadi gesehen hatte. Plünderer waren hier aus und ein gegangen, hatten die Wände aufgehackt und die elektrischen Leitungen herausgerissen. Jedes Mal, wenn er eine solche Wohnung wieder verließ, hatte er das Gefühl, einem Grab zu entsteigen, nur dass er sich in einet Stadt von Gräbern befand.
    Er fuhr zum Hauptplatz zurück und ging in das Büro hinauf, in dem er die vergangene Nacht den Mann gesehen hatte. Der Koffer und der Behelfsgrill waren verschwunden, ebenso der Zettel mit seiner Handynummer und dem Dollarzeichen. Er wusste nicht, hinter was er her war, doch er tat, was er konnte. Insofern war es ein kluger Schachzug von Surin gewesen, ihn hierher zu schicken, das musste er zugeben. Der Staatsanwalt wusste: Bei einem Reaktorunglück, das je nach Zählart vierzig oder eine Million Todesopfer gefordert hatte, würde ein halbwegs vernünftiger Mensch sich kaum Gedanken darüber machen, was mit einem einzelnen Mann geschehen sei. Was war, wenn Arkadi tatsächlich eine Verbindung zwischen Timofejew und Tschernobyl entdecken sollte? Russen, Weißrussen, Ukrainer, Dänen, Eskimos, Italiener, Mexikaner und Afrikaner, die mit dem Gift in Berührung gekommen waren, als es sich auf der halben Welt verbreitete, hatten nichts mit Tschernobyl zu tun, doch auch sie würden sterben. Die Ersten, die Feuerwehrleute von Pripjat, starben innerhalb eines Tages, innen und außen verstrahlt. Der Rest würde unauffällig im Lauf von Generationen dahinsiechen. Was zählten da Timofejew oder Iwanow? Doch Arkadi konnte sich nicht bremsen. Ja, er fühlte sich, wenn er mit dem Motorrad durch die ausgestorbenen Straßen von Pripjat fuhr, immer mehr wie zu Hause.
     
    Die Milizstation von Tschernobyl war ein Backsteinbau, aus dessen Ecke ein Lindenspross ragte wie eine Feder aus einem Hut. Martschenko trat zu Arkadi auf den Parkplatz, von dem der sichergestellte BWM Timofejews verschwunden war.
    Der Hauptmann trug einen sauberen Camo und stellte bittere Genugtuung zur Schau. »Sie wollten ihn sich noch einmal ansehen? Zu spät. Bela hat ihn nach Kiew gebracht, während wir beide da draußen hinter dem Ikonendieb her waren. Jemand aus meinem eigenen Revier muss Bela gesteckt haben, dass ich nicht da war.« Er legte den Kopf schief. »Hören Sie?
    Die erste Grille. Ein Idiot, keine Frage. Wie auch immer, jedenfalls muss ich mich für meinen Gefühlsausbruch heute Morgen entschuldigen. Ob Tschernobyl oder Tschornobyl, was spielt das für eine Rolle?«
    »Nein, Sie hatten Recht, ich sollte Tschornobyl sagen.«
    »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Sagen Sie Tschornobyl Lebewohl!«
    »Aber mir ist etwas eingefallen.«
    »Ihnen fällt immer etwas

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