Treue Genossen
gedenken.«
»Das kann ich leider nicht sagen. Ich weiß es nicht.« Er griff automatisch nach einer Zigarette, um besser nachdenken zu können.
»Eine ungefähre Angabe wäre hilfreich. Die Situation hier wird immer schlimmer.«
»Hat mein Freund Viktor Schenja besucht?«
»Anscheinend waren sie zusammen in einem Biergarten. Ihr Freund Viktor ist eingeschlafen, und die Miliz hat Schenja ins Heim zurückgebracht. Wann kommen Sie zurück?«
»Ich arbeite, ich mache keine Ferien.«
»Können Sie nächstes Wochenende kommen?«
»Nein.«
»Dann übernächstes?«
»Nein. Es ist ja schließlich kein Katzensprung, und ich bin weder sein Vater noch sein Onkel. Ich bin für Schenja nicht verantwortlich.«
»Reden Sie mit ihm.«
»Warten Sie.« Am anderen Ende der Leitung wurde es still. »Schenja«, fragte Arkadi, »bist du dran? Ist da jemand?« Olga Andriwna ging ran. »Los, er wartet.«
»Worüber soll ich denn reden?«
»Über Ihre Arbeit. Wie es dort ist, wo Sie sind. Was Ihnen so in den Sinn kommt.«
Alles, was Arkadi in den Sinn kam, war ein Bild von Schenja, wie er sich grimmig an sein Schachspiel und sein Märchenbuch klammerte.
»Schenja, hier spricht Chefinspektor Renko. Ich bin’s, Arkadi. Ich hoffe, dir geht es gut.« Das klingt wie ein förmlicher Brief, dachte Arkadi. »Wie ich höre, machst du den Leuten im Heim Kummer. Bitte unterlass das. Hast du Schach gespielt?«
Schweigen.
»Der Mann, mit dem du im Auto Schach gespielt hast, hat gesagt, dass du sehr gut bist.«
Vielleicht war da ein Junge am anderen Ende der Leitung. Vielleicht baumelte der Hörer aber auch in einem Brunnen.
»Ich bin in der Ukraine, eine lange Autofahrt von Moskau entfernt, aber ich komme bald zurück, und wie soll ich dich dann finden, wenn du aus dem Heim wegläufst?«
Worüber sollte er noch reden, überlegte Arkadi. Über einen Mann, dem man die Kehle durchgeschnitten hatte?
»Hier ist es wie in Russland, nur wilder. Alles ist überwuchert. Kaum Menschen, dafür aber richtige Elche und Wildschweine. Bis jetzt habe ich keine Wölfe gesehen, aber vielleicht höre ich noch welche heulen. Die Leute sagen, dass man das niemals vergisst. Dabei muss ich immer an Wolfsrudel denken, die Schlitten im Schnee verfolgen, du auch? Früher sind meine Eltern mit mir öfter zu einer Datscha gefahren. Ich habe nicht Schach gespielt wie du.« Arkadi fiel wieder ein, dass er eine zerlegte Pistole in der Hand hielt, und fragte sich, wie er auf dieses Thema gekommen war. »Es war schon dunkel, wenn wir ankamen. Es gab da noch andere Datschas, aber die Bewohner waren vertrieben worden. Wenn wir uns der Hütte näherten, heulten die jungen Offiziere, die vorausgefahren waren, zur Begrüßung meines Vaters wie Wölfe. Er dirigierte sie wie ein Chorleiter. Er versuchte es mir beizubringen, aber ich konnte es nie gut.«
Die ökologische Station drei von Tschernobyl war eine baufällige Gärtnerei. Trübes Licht sickerte durch ein Plastikdach, das immer wieder eingerissen und geflickt worden war. Topfpflanzen reihten sich auf Tischen und erduldeten das Gedudel aus einem Radio, das an einem Pfosten hing. Ukrainischer Hip-Hop. Über ein Mikroskop gebeugt, wiegte sich Vanko im Rhythmus.
»Eigentlich«, erklärte Alex Arkadi, »ist die Schaufel das wichtigste Werkzeug des Ökologen. Vanko kann hervorragend mit einer Schaufel umgehen.«
»Wonach graben Sie?«
»Nach den üblichen Verdächtigen: Cäsium, Plutonium, Strontium. Wir nehmen Boden- und Wasserproben, untersuchen, welche Pilze mehr Radionuklide aufnehmen, prüfen die DANN von Säugetieren. Wir studieren die Mutationsrate von Clethrionomys glareolus, einem Tierchen, das Sie später noch kennen lernen werden, und ermitteln die Dosisraten für Cäsium und Strontium bei einer Vielzahl von Säugetieren. Wir töten so wenig wie möglich, doch im Interesse des Gemeinwohls muss man rücksichtslos sein, wie mein Vater zu sagen pflegte.« Er führte Arkadi nach draußen. »Aber das hier ist unser Garten Eden.«
Der Garten Eden maß fünf auf fünf Meter. Melonen lagen träge am Boden, pralle Tomaten reiften am Stock, und Sonnenblumen leuchteten in der Morgensonne. Rote Bete und Weißkohl, die wichtigsten Zutaten zu Borschtsch, wuchsen in Reihen nebeneinander. In den Ecken hatte man Apfelsinenkisten mit Stöcken aufgebockt.
»Die alte Krume musste abgetragen werden«, erklärte Alex mit Gärtnerstolz. »Der neue Boden ist sandig, aber ich bin zuversichtlich, dass es klappt.«
»Ist das der
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