Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
darauf. Es gab keinen entsprechenden Pfefferstreuer in der Wohnung, und Arkadi vermutete, dass er wie ein kleiner, Gammastrahlen aussendender Leuchtturm auf dem Haufen gestanden hatte. Selbstmorde hatten ein Muster, zuerst Erschöpfung, dann manische Energie. Hier ist der Stuhl, wo ist der Strick? Hier ist das Rasiermesser, wo ist die Badewanne? Wohin mit radioaktivem Salz? Schlucken. Mit trockenem Brot hinunterwürgen. Mit Mineralwasser hinunterspülen. Das Dosimeter zirpt? Stell es ab. Du blutest aus der Nase? Wisch das Blut weg, wickle das Taschentuch um das Dosimeter und stopf es in die Schublade zu den Hemden. Ordnung ist wichtig, aber Beeilung. Nicht nachlassen. Der Magen will von sich geben, womit du ihn gefüttert hast. Öffne das Fenster. Dann nimmst du den Salzstreuer, kletterst hinauf, stehst hoch über der Welt, Vorhänge flattern, und du richtest deinen Blick auf den hellen Horizont. Es stirbt sich leichter, wenn man schon tot ist.
    Regen ging an diesem Morgen auf den morschen Landungssteg des Tschernobyler Yachtklubs am Pripjat-Fluss nieder. Planken waren durchgebrochen und hatten ein schlüpfriges Schachbrett hinterlassen, über das Arkadi und Vanko nun ein Ruderboot aus Aluminium trugen, das Arkadi sich für einen Tag von Vanko gemietet hatte. Für eine Flasche Wodka extra hatte sich Vanko erboten, ihn zu begleiten und ihm die eine oder andere günstige Stelle zum Angeln zu zeigen, doch Arkadi hatte gar nicht die Absicht zu angeln. Rute und Rolle hatte er nur der Form halber mitgebracht.
    »Mehr haben Sie nicht dabei?«, fragte Vanko. »Keine Köder?«
    »Keine Köder.«
    »Bei leichtem Regen wie heute beißen sie gern.«
    Arkadi wechselte das Thema. »War das hier tatsächlich mal ein Yachtklub?«
    »Für Segelboote. Nach dem Unglück hat man sie weggebracht. Heute sind alle an reiche Leute am Schwarzen Meer verkauft.« Die Vorstellung schien Vanko zu amüsieren.
    Nebel lag über einer Flotte von Frachtkähnen und Ausflugsbooten, die hier versenkt oder auf Grund gesetzt worden waren und deren Weiß sich rostrot verfärbte. Es war, als hätte eine Explosion die Fähren, Schwimmbagger und Schlepper, Kohlenkähne und Flussfrachter aus dem Wasser gehoben und ans Ufer geworfen. Der Steg endete an einem Tor mit Vorhängeschloss. Auf Warnschildern stand »Hohe Strahlung!«, »Schwimmen verboten!« und »Tauchen verboten!« Im Grunde, so fand Arkadi, waren die meisten Schilder überflüssig.
    »Eva wohnt da hinten in einer Hütte.« Vanko deutete über die Brücke auf einen Wohnblock aus Backstein. »Weit hinten. Sie würden es nie finden.«
    »Daran zweifle ich keine Sekunde.«
    Vanko verfügte über einen Schlüssel für das Vorhängeschloss und half Arkadi, das Boot über eine Schleuse und eine Brücke zum Nordarm des Flusses zu tragen. Arkadi fiel nicht zum ersten Mal auf, dass der mit stoischem Gleichmut und jugendlichen Ponyfransen ausgestattete Vanko für alles einen Schlüssel hatte, als sei er der Nachtwächter der Stadt. »Im Tschernobyler Hafen herrschte früher viel Betrieb. Als hier noch Juden lebten, wurde auf dem Fluss reger Handel getrieben.«
    Arkadi fand, dass Vanko mitunter abrupt das Thema wechselte. »Dann habt ihr seit dem Krieg keine Juden mehr? Seit die Deutschen hier waren?«
    Sie stiegen zum Ufer hinunter. Vanko ließ das Boot zu Wasser, hielt es aber am Heck fest. »So ungefähr.«
    Arkadi warf einen letzten Blick auf die Verbotstafeln, dann stieg er mit den Rudern ein. »Wie verseucht ist der Fluss eigentlich?«
    Vanko zuckte mit den Achseln. »Wasser absorbiert tausend Mal mehr Strahlung als Erdreich.«
    »Oh!«
    »Aber sie setzt sich auf dem Grund ab.«
    »Ach!«
    »Deshalb Finger weg von Schalentieren.« Vanko hielt das Boot weiter fest. »Da fällt mir ein: Sie sind bei den alten Leuten heute Abend zum Essen eingeladen. Sie erinnern sich doch an Roman und Maria aus dem Dorf?«
    »Ja.« Die alte Frau mit den hellblauen Augen und der alte Mann mit der Kuh.
    »Gehen Sie hin?«
    »Selbstverständlich.« Abendessen im schwarzen Dorf. Wer wollte sich so etwas entgehen lassen?
    Vanko war erfreut. Er gab dem Boot einen Stoß. Arkadi setzte die Ruder in die Dollen ein und legte sich in die Riemen. Nach zwei langen Schlägen glitt das Boot in die träge Strömung des Pripjat.
    Er war hier, weil der Klempner sein Versprechen gehalten und am Morgen angerufen hatte: Er sollte allein in einem Boot mitten auf den Kühlsee hinter dem Atomkraftwerk Tschernobyl hinausrudern und hundert Dollar

Weitere Kostenlose Bücher