Treue Genossen
den Kühlsee Boote. Der Wind könnte es losgerissen haben. Und überhaupt, seit wann habe ihnen ein hergelaufener Russe etwas zu befehlen? Und vielleicht könnten sie einen Außenbordmotor selbst gut gebrauchen. Die letzte Bemerkung machten sie zu spät, denn inzwischen war Arkadi ins andere Boot gesprungen, hatte die Leinen gelöst und wieder zusammengeknotet und tuckerte nun, Vankos Boot im Schlepptau, mit Maschinenkraft davon, mitten hinein in eine Bö, die jeden Gedanken an eine Verfolgung im Keim erstickte.
Am Damm stieg Arkadi wieder in Vankos Boot um und fuhr weiter flussabwärts. Diesmal konnte er sich in der Strömung treiben lassen. Ein Storch mit rotem Schnabel, scharf wie ein Bajonett, und schwarz geränderten weißen Flügeln segelte vorbei und über einen Artgenossen hinweg, der im Zeitlupentempo am Ufer entlangstakste und sich an eine Beute anpirschte. Die Straßen von Tschernobyl waren wie ausgestorben, aber auf dem Fluss herrschte ein lebhaftes Treiben. Oder ein mörderisches Treiben, was bisweilen das Gleiche war.
Als er wieder zu den Rudern griff, lichtete sich der Nebel, und wie riesige Grabsteine tauchten die Wohnblöcke von Pripjat am Ufer auf. Hatte Oxana Katamai nicht gesagt, dass man von ihrem Block aus direkt auf den Bahnhof und den Fluss blickte? Er warf das Boot herum.
Die Wohnung der Katamais war leicht zu finden. Oxana hatte ihm die Adresse genannt, und obwohl die Wohnung im siebten Stock lag, war die Treppe frei vom üblichen Schutt und Gerümpel. Die Tür stand offen, und vom Wohnzimmer blickte man auf das Kraftwerk, den Fluss, die dunklen Wurmlöcher einstiger Bahngleise und dampfende Nebelschwaden. Arkadi konnte sich vorstellen, wie Olexander Katamai, der Bauleiter, gleich einem Riesen vor einem solchen Panorama gestanden hatte.
Die Familie war offenbar heimlich zurückgekehrt, um Sachen zu holen, die sie bei der Evakuierung nicht hatte mitnehmen können. An dieser kahlen Wand hatte ein Gobelin gehangen. In den leeren Regalen hatten Bücher oder ausgestopfte Tiere gestanden. Alles in allem jedoch war die Familie wählerisch gewesen, und Arkadi drängte sich der Eindruck auf, dass >Selbstsiedler< und Plünderer die Wohnung der Katamais links liegen gelassen hatten. Im Wohnzimmer standen noch Sofa und Sessel, Strom- und Wasserleitungen schienen intakt. Jemand hatte den Kühlschrank ausgeräumt, ein zerbrochenes Fenster zugeklebt, die Betten gemacht, die Badewanne geschrubbt. Die Wohnung war, abgesehen von der Strahlung, praktisch bezugsfertig.
Ein Zimmer gehörte, wie Arkadi vermutete, dem Großvater. Es war leer geräumt bis auf ein paar Eimer Gerblösung und eingetrockneten Leim. Ein zweites Zimmer war mit Bildern von Filmstars und Postern von Kunstturnerinnen geschmückt, die mit manischer Energie auf einer Matte Bodenübungen machten. Namen stiegen aus der Vergangenheit auf: Abba, Korbut, Comaneci. Stofftiere saßen auf dem Bett. Arkadi fuhr mit einem Dosimeter über einen Löwen und erntete ein kurzes Brüllen.
Karels Zimmer lag am Ende des Flurs. Zum Zeitpunkt des Reaktorunglücks musste er ungefähr acht Jahre alt gewesen sein und schon damals ein guter Schütze. An der Wand hingen jedenfalls Schießscheiben aus Papier, deren Schwarzes durchlöchert war, zusammen mit Postern von Heavy-Metal-Musikern mit geschminkten Gesichtern. Auf den Regalen reihten sich Panzer der Roten Armee, Kampfflugzeuge, Haifischzähne und Dinosaurier. Ein zerbrochener Ski lehnte in einer Ecke. An einem Bettpfosten baumelten Medaillen für besondere Leistungen in Sportarten wie Eishockey, Fußball und Schwimmen. Über dem Bett hing ein Foto von Karel, das ihn auf einem Rummelplatz zeigte, zusammen mit seiner großen Schwester Oxana. Sie war nicht älter als dreizehn und hatte langes dunkles Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Und es gab Aufnahmen von Karel mit seinem Großvater beim Angeln.
Auf einem anderen posierte er mit einem Fußball und zwei mürrisch dreinblickenden Mannschaftskameraden, den Ur-Woropais. Wo man mit den Klebstreifen Farbe abgerissen hatte, waren Vierecke geblieben. Unter dem Bett fand Arkadi Bilder, die heruntergefallen waren: ein Foto der Fußballmannschaft von Dynamo Kiew, andere vom Eishockey-Superstar Fetisow, von Muhammad Ali und schließlich ein Schnappschuss von Karel, auf dem er mit erhobenen Fäusten neben einem Boxer posierte. Er trug Shorts wie ein richtiger Kämpfer. Der Boxer hatte Shorts und Handschuhe an. Er war es höchstpersönlich, damals um die Achtzehn,
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