Treue Genossen
arbeite dich dann nach unten. Das wird teuer. Erledige die Anrufe von deinem Hotel aus, auf Bobbys Kosten.«
»Magische Worte.«
Bevor der große Regen einsetzte, fuhr Arkadi zu dem schwarzen Dorf, in dem man Timofejew gefunden hatte. Er war schon zwanzigmal dort gewesen, und jedes Mal hatte er sich gefragt, wie der russische Millionär wohl an das Friedhofstor in der Sperrzone gelangt war. Außerdem hatte er sich vorzustellen versucht, unter welchen Umständen Timofejews Leiche von dem Milizionär Katamai und dem unbekannten >Selbstsiedler< gefunden worden war. War dieser Unbekannte vielleicht Hulak gewesen, der Mann, den sie aus dem Kühlsee gefischt hatten? Fragen konnte er keinen der drei mehr. Timofejew und Hulak waren tot, Katamai war verschwunden. Die Fakten waren widersprüchlich, die Witterungsverhältnisse hingegen perfekt. Dräuende Wolken, aus denen ein paar Regentropfen fielen, und das nahende Grollen eines Gewitters. Genau wie an Timofejews letztem Tag.
Auf dem freien Platz, auf dem Eva Kaska ihre Sprechstunde abgehalten hatte, stieg Arkadi vom Motorrad. In gewisser Weise gab es zwei Friedhöfe. Der eine war das Dorf selbst mit seinen eingeworfenen Fensterscheiben und einstürzenden Dächern. Der andere der Gottesacker mit den schlichten Kreuzen aus blau oder weiß bemalten Eisenrohren, von denen manche mit Tafeln, andere mit Fotografien in wasserdichten ovalen Rahmen und wieder andere mit bunten Sträußen aus Kunststoffblumen geschmückt waren. Halte dein ewiges Licht am Brennen, dachte Arkadi, bring mir Plastikblumen.
Plötzlich tauchte Maria Panasenko aus einer Ecke des Friedhofs auf. Arkadi war überrascht, denn auf einer Tafel am Eingang wurde vor dem Betreten des Friedhofs wegen zu starker radioaktiver Verseuchung gewarnt und darauf hingewiesen, dass nur ein einziger Besuch pro Jahr gestattet war. Maria trug ein schweres Schultertuch für den Fall, dass es regnete. Sonst war sie derselbe alte Cherub, der vor zwei Tagen die Samogon-Saufparty gegeben hatte. Sie trug einen Leinensack voller Unkraut und Brombeerranken über der Schulter, den sie sich von Arkadi nicht abnehmen ließ. Ihre Hände waren klein und rau, und ihre blauen Augen leuchteten selbst im Schatten der tief hängenden Wolken.
»Unsere Nachbarn.« Sie ließ den Blick über den Friedhof schweifen. »Ich bin sicher, sie würden dasselbe für uns tun.«
»Sie haben ihn schön in Ordnung gehalten«, sagte Arkadi. Wie ein gemütliches Vorzimmer zum Himmel, dachte er.
Sie lächelte und zeigte ihre Stahlzähne. »Roman und ich hatten immer Angst, wir würden keinen schönen Platz auf dem Friedhof bekommen. Jetzt haben wir freie Auswahl.«
»Ja.« Das Positive sehen.
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Trotzdem ist es traurig. Ein Dorf stirbt. Das ist wie das Ende eines Buchs. Schluss, aus. Roman und ich könnten die letzte Seite sein.«
»Bis dahin sind es noch viele Jahre.«
»Es sind jetzt schon genug, trotzdem danke.«
»Ich habe mich gefragt, wie die Miliz hier so ist.«
»Oh, die bekommen wir selten zu sehen.«
»Und >Selbstsiedler«
»Nie.«
»Liegen zufällig irgendwelche Obodowskis auf dem Friedhof?«
Maria schüttelte den Kopf. Sie kenne alle Familien aus den Dörfern der Umgebung, eine Familie Obodowski sei nicht darunter. Sie warf einen Blick auf den Sack. »Verzeihen Sie, aber den sollte ich nach Hause bringen, bevor er nass wird. Kommen Sie doch auf ein Glas mit.«
»Nein, nein, danke.« Schon die bloße Drohung mit Samogon brachte ihn ins Schwitzen.
»Ganz bestimmt nicht?«
»Nein. Ein andermal, wenn ich darf.«
Er wartete, bis sie fort war, dann lenkte er seine Gedanken wieder auf Lew Timofejews Tod. Er wusste wenig mit Gewissheit: Der Tote war auf dem Rücken liegend im Morast am Friedhofstor gefunden worden, die Kehle aufgeschlitzt, die linke Augenhöhle leer, weder das Haar noch das Hemd blutig, dafür aber viel Blut in der Nase. Von der Frage nach dem Warum war er noch weit entfernt. Bislang konnte er nur nach dem Wie fragen. War Timofejew selbst zu dem Dorf gefahren, oder war er gefahren worden? Hatte er den Friedhof selbst gefunden, oder hatte ihn jemand hingeführt? War er hingeschleppt worden, und wenn ja, tot oder lebendig? Wäre seinerzeit ein tüchtiger Kriminalpolizist zur Stelle gewesen, hätte er Reifenabdrücke, Blutspuren, parallele Schleifspuren zweier Schuhabsätze oder Schmutz an den Schuhen des Toten gefunden? Oder wenigstens Fußabdrücke? Im Bericht war von Wolfsspuren die Rede, warum
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