Treue Genossen
nicht von Schuhspuren? Und zur Frage des Warum: War Timofejew das Opfer einer Verschwörung geworden, oder war er dem Milizionär Katamai als unverhoffte Beute in die Hände gefallen?
Arkadi begann wieder auf dem freien Platz, denn wenn im Dorf ein Wagen gehalten hatte, dann höchstwahrscheinlich hier. Hier verengte sich der Weg zum Friedhof zu einem Fußpfad. In einem der wenigen bewohnten Häuser bewegte sich ein Vorhang, und bevor er wieder zufiel, erhaschte Arkadi einen Blick von Marias Nachbarin Nina, der Frau mit der Krücke. Konnte hier etwas geschehen, ohne dass diese wachsamen Überlebenden es bemerkten? Doch sie hatten alle geschworen, dass sie nichts gesehen hätten.
Arkadi ging den Weg entlang. Alle paar Schritte blieb er stehen, fegte Laub beiseite und suchte, wie schon ein Dutzend Mal zuvor, nach Abdrücken oder sonstigen Spuren, und wieder ohne Erfolg. Am Friedhofstor hielt er inne und stellte sich vor, wie Timofejew hier stand, kniete, auf dem Rücken lag. Fotos wären ihm eine große Hilfe gewesen. Oder wenigstens eine Zeichnung oder Skizze. So aber war er nicht besser dran als ein Hund, der eine alte Witterung aufzunehmen versuchte. Doch es blieb immer etwas übrig. Besucher der Hügel bei Borodino spürten noch den Atem der französischen und russischen Füsiliere unter dem Gras. Warum sollte er nicht ein Echo von Timofejews letztem Atemzug empfangen? Oder die Geister der hier Begrabenen fühlen? Wenn es je ein einfaches Leben gab, dann hier, zwischen diesen Feldern und Obstgärten, die der übrigen Welt beinahe so fern waren wie ein anderes Jahrhundert.
Arkadi öffnete das Tor. Der Friedhof war ein zweites Dorf, bestehend aus Gräbern und Kreuzen, die schmiedeeiserne Zäune voneinander abgrenzten. Neben manchen Gräbern war kaum genug Platz zum Stehen, andere boten die Annehmlichkeit eines Tisches und einer Sitzbank, doch eindrucksvolle Anlagen oder Grabsteine fehlten. Reichtum spielte im Leben und Sterben einer solchen Gemeinde keine große Rolle. Maria hatte auf der einen Seite rund um die Kreuze fleißig Unkraut gejätet. Auf der anderen Seite, der ohne Kreuze, standen vier Glasgefäße mit violetten, blauen und weißen Stiefmütterchen, jedes am Kopfende einer kaum sichtbaren Erhebung. Das Licht war so schwach, dass Arkadi sich nicht sicher war. Er kniete nieder und breitete die Arme aus. Vier kindergroße Gräber. Ohne Kreuze, damit sie nicht auffielen. Illegale Gräber. Wie schwer wog dieses Vergehen?
Eva hatte gesagt, dass Timofejew sehr blass gewesen sei, wie ausgeblutet. Bei gefrorenen Leichen konnte man sich leicht täuschen, doch Arkadi glaubte ohne weiteres, dass sie mehr Gewalt gesehen hatte als die meisten Ärzte, und Timofejews Maske aus Raureif und starrer einäugiger Blick dürften sie mehr an Tschetschenien erinnert haben als an einen Herzinfarkt. Nur, wenn Timofejew die Kehle durchgeschnitten worden war, wohin war das Blut geflossen? Bei normaler Haltung, mit dem Kopf nach oben, hätte es sein Hemd durchtränken müssen. Im umgekehrten Fall sein Haar. Aber nur seine Nase war voller Blut gewesen. Das konnte bedeuten, dass man ihn an den Füßen aufgehängt und ihm hinterher Gesicht und Haare gewaschen hatte. Und das Auge? War das für Wölfe ein Leckerbissen?
Angenommen, er war an den Füßen aufgehängt und hinterher gewaschen worden. In dem Fall hätten, bedingt durch das Absacken des Blutes und trotz des Aderlasses, rings um den Kopf rotblaue Flecken auftreten müssen, aber die konnten mit Gefrierbrand verwechselt worden sein.
Arkadi stand da, eine Hand am Tor, und einen Augenblick lang meinte er etwas zu erkennen, etwas, das direkt vor ihm lag, doch schon war es wieder fort, verscheucht von ein paar Regentropfen, den Vorboten eines heftigen Unwetters.
Im nächsten schwarzen Dorf gab es gar keine Bewohner mehr, und sein Friedhof war von Brombeersträuchern und Unkraut überwuchert. Arkadi hatte gehofft, der direkte Vergleich würde ihm zu einer Art Eingebung verhelfen, doch ds er vom Motorrad stieg und zwischen den verfallenden Häusern umherging, empfand er die Atmosphäre hier nur als noch bedrückender. Der lehmige Geruch von Schirmpilzen wetteiferte mit dem übersüßen Geruch fauliger Äpfel. Wo Wildschweine nach Pilzen gewühlt hatten, meldete sich lautstark das Dosimeter in seiner Tasche. In dem Haus vor sich hörte er ein Scharren, und er fragte sich, wer schneller am Motorrad war, Mensch oder Wildschwein? Plötzlich wünschte er, er hätte Hauptmann
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