Treue in Zeiten Der Pest
haust seit wenigen Tagen in Quimper«, sinnierte Henri. »Noch verbirgt er sich. Aber er ist da. Er wird alles verheeren. Auf diesem Kalvarienberg ist es bereits vorgezeichnet. Christus wird verlieren. Wir werden verlieren.«
»Du denkst sehr pessimistisch, Christ«, entgegnete Uthman und klang dabei schärfer als gewollt. »Es gibt immer noch Hoffnung.«
»Joshua hat die Krankheit eindeutig als Pest erkannt«, sagte Henri fest. »Und du besitzt noch mehr medizinische Kenntnisse als er. Wenn du dich nicht weigern würdest, Angélique zu untersuchen, wäre dir klar, dass die Lage ernst ist.«
»Ich habe medizinische Kenntnisse, das ist wahr, aber ich bin kein Medicus«, erwiderte Uthman knapp. »Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht wirklich aus. Und auch Joshua ist kein Medicus, sein Urteil ist nicht verlässlich.«
»Das stimmt«, bestätigte Joshua den Freund. »Aber ich sah schon Pestkranke in Nordafrika. Ich weiß, wovon ich rede. Wenn Angélique die nächsten fünf Tage überlebt, dann habe ich mich geirrt.«
Die trüben Gedanken trieben die Freunde dazu, rasch wieder auf die Pferde zu steigen und weiterzureiten. Kurz darauf machten sie eine Entdeckung, die sie zunächst verwirrte und dann mit Bestürzung erfüllte. Joshua erblickte sie als Erster. Anfänglich sah er nur ein Kleiderbündel im Wasser treiben, das immer wieder gegen einen Schiffsrumpf stieß. Als er die Freunde darauf aufmerksam machte und sie alle näher ritten, erkannten sie allerdings, dass es sich um eine Leiche handelte, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb.
Die Freunde stiegen ab, und da Joshua als Jude verboten war, den Toten zu berühren, beugte Henri sich hinunter, ergriff den Umhang des Unbekannten und zog ihn ans Ufer. Als er ihn herumdrehte, sahen die Freunde sofort, dass es sich um einen Mann handelte. Sein Haar hatte sich wirr um den Kopf geschlungen. Sein Gesicht war mit schwarzen, harten Schwären übersäht, und seine Augen waren aus den Höhlen gequollen.
»Wie lange wird er schon tot sein?«, fragte Joshua.
»Nicht länger als zwei Tage«, schätzte Uthman.
Henri starrte auf die Leiche. Er schob den Kopf mit zwei Fingern auf die linke Seite und sah, was er befürchtet hatte. Auch am Hals hatten sich schwarze Knoten gebildet, die ins Grünliche übergingen. Henri blickte Joshua an. Der nickte.
»Wie bei Angélique«, sagte er mit dumpfer Stimme.
Ohne Vorwarnung preschte plötzlich ein riesiges Rudel Ratten aus dem Schiffsrumpf. Wie sich rasch herausstellte, waren sie zum Sterben herausgekommen. Nebeneinander hertaumelnd oder übereinander herfallend näherten sie sich den Gefährten. Einige bluteten schon aus den Schnauzen und blieben bald mit aufgeblähten Bäuchen liegen, die anderen kletterten über sie hinweg. Das Ekelhafteste waren die Geräusche, die sie ausstießen. Ihr Quieken erinnerte an markerschütternde Schreie kleiner Kinder.
Henri starrte von den Ratten auf die Leiche und wieder zurück. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es zwischen dem Tod der Tiere und dem des Menschen einen Zusammenhang geben könnte. Aber welchen? Hatten die Ratten den Mann totgebissen? Waren die schwarzen Male an seinem Hals eingetrocknete Bisswunden? Doch Henri kam mit seinen Gedanken nicht weiter.
»Lasst uns aufsitzen und verschwinden, hier ist es mir unheimlich!«, rief Joshua.
»Und der Tote?«, sagte Uthman.
Henri erblickte Seeleute auf dem Lastkahn und rief ihnen zu. Sie verstanden ihn. Einer von ihnen nahm bereits eine Schaufel in die Hand.
»Wir lassen ihn liegen«, entschied Henri. »Die Männer auf dem Kahn werden sich darum kümmern, es scheint einer von ihnen zu sein.«
Die Gefährten saßen auf und gaben ihren Pferden die Hacken. Je schneller sie diesen unheimlichen Ort verließen, desto besser.
Je näher sie Quimper kamen, desto mehr Lastkähne fuhren flussaufwärts. Darunter befanden sich jetzt auch Barken mit quadratischem Segel, die Geräte und Werkzeuge transportierten. Im Hafen von Quimper, wo die kleinen Schiffe ankern konnten, wuchsen Abfallberge empor, Fischreste stanken zum Himmel. Niemand kümmerte sich darum, Stadtreiniger waren an diesem Tag keine zu sehen. Und als die Gefährten genauer hinsahen, erblickten sie Scharen von Ratten zwischen den Abfällen, und auch hier rangen bereits einige davon mit dem Tod.
»Es wird immer schlimmer«, sagte Uthman. »Die Stadträte müssen etwas unternehmen. Dieser Anblick demoralisiert die Einwohner und macht sie
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