Treue in Zeiten Der Pest
Joshua Sehnsucht nach den klaren, heißen Tagen und Nächten in Spanien, die niemals so drückend waren wie hier in dieser modrigen kleinen Hafenstadt. Das hiesige Klima begünstigte schlechte Gedanken und üble Ausdünstungen. In Quimper fühlte Joshua sich wie ein Gefangener. Allerdings wusste er nicht, wer sein Kerkermeister war. Vielleicht war er es ja selbst.
Joshua schlenderte an der Außenwand des rechten Seitenschiffs entlang. Hier war die Decke noch recht niedrig. Nur im Mittelschiff waren die Arbeiten schon so weit vorangeschritten, dass sich das Gewölbe weit nach oben öffnete. Joshua dachte an seine Freunde. Er wollte es jetzt wagen, hinauszugehen. Im Schutz der Dunkelheit würde es ihm schon gelingen, unerkannt zur Herberge zurückzuschleichen. Er hatte schon zu lange in dieser Kirche verharrt.
Kurz entschlossen setzte er seinen Gedanken in die Tat um. Er ging an den Reihen der Betenden vorbei. Im Chor sang der Bischof, assistiert von Ministranten. Der Geruch nach Weihrauch schnürte Joshua die Kehle zu.
Als er ins Freie trat, schlug ihm die schwüle, abgestandene Luft überraschend schwer ins Gesicht. Er schaute zum Himmel. Dort herrschte tiefste Dunkelheit. Es wird bald regnen, dachte Joshua und freute sich bereits auf die erfrischende Kühle, die der Regen mit sich bringen würde. Schon fielen einige schwere Tropfen. Aber sie versiegten sofort wieder. Der ersehnte kräftige Guss blieb aus. Langsam ging Joshua den Rand des Kirchenvorplatzes entlang. Dabei stieß er auf einen Abfallhaufen, auf dem zwei tote Hunde lagen. Um sie herum drängten sich höchst lebendige quiekende Ratten. Joshua schüttelte sich, ging weiter und tauchte im Gewirr der kleinen Gassen unter.
Die Herberge sollte er an diesem Abend allerdings nicht mehr erreichen.
Kurz bevor er dort ankam, sah er fünf Stadtsoldaten, die eine alte Frau umringten, die gebückt in ihrer Mitte stand. Joshua glaubte zunächst, sie würde von den Männern bedroht. Dann aber begriff er, dass sie die Alte nur stützten, die einen recht schweren Eimer mit toten Ratten in der Hand trug. Während Joshua sich über dieses seltsame Bild noch wunderte, blickte die Alte ihn plötzlich an. Joshua dachte sich nichts dabei. Ihr Blick schien ihn nur gestreift zu haben, ganz zufällig.
Plötzlich krampfte sich die Hand der Frau fester um ihren Eimer, und sie lief mit einer ungeahnten Schnelligkeit auf Joshua zu. Kurz bevor sie bei ihm stand, schleuderte sie ihm die toten Ratten entgegen. Die Tiere ergossen sich über Joshua, der sie völlig überrascht und angeekelt abschüttelte.
Dann kamen die Soldaten. Einer hob seine Pieke und schlug ihren stumpfen Griff Joshua ins Gesicht. Als dieser taumelte, hieb ihm ein zweiter Soldat den Griff seines Schwerts gegen den Hinterkopf.
Joshua brach zusammen.
5
Anfang Mai 1318. Die Bluttaufe
Die Todesfälle häuften sich. Des Nachts kam es zuweilen vor, dass jemand irgendwo außerhalb seiner Wohnstatt starb und aufgefunden wurde. Dann verscharrten ihn die Totengräber und deren Gehilfen, die der Stadthauptmann im Auftrag des Bürgermeisters auf Leichensuche ausgeschickt hatte. Überall tauchten ihre Trupps jetzt auf. Männer in schwarzer Kleidung, manche mit einem dunklen Tuch vor dem Gesicht, die einen Karren hinter sich herzogen. Im Büro des Stadthauptmanns befand sich eine Schiefertafel, auf der die Anzahl der Toten vermerkt wurde. Am fünften Tag nach dem Tod des ersten Seuchenopfers zeigte diese Tafel elf Striche.
Niemand konnte die Gefahr in der Stadt jetzt noch übersehen. Die Kathedrale und die kleinen Kapellen waren Tag und Nacht geöffnet, und immer mehr Gläubige strömten hinein, um zu beten. Die Priester wahrten das Gedächtnis der Verstorbenen, als hätten sie sich für die ganze Stadt geopfert, sie galten jetzt als Fürsprecher der Überlebenden vor Gott. Der Todestag eines Verstorbenen galt als der Geburtstag eines neuen Lebens, und in der momentanen Situation empfanden viele ihn weniger schrecklich als früher. Schon gab es einige Einwohner, die Krankheit und Tod regelrecht herbeiflehten, um in die Reihen der neuen Märtyrer aufgenommen zu werden und am Schicksal Christi teilzunehmen.
Am Hafen ging es derweil allerdings weiterhin sehr geschäftig zu. Seeleute und Kahnschiffer versuchten, die immer größeren Horden von Ratten, die wie aus dem Nichts auftauchten, zu eliminieren. Wurde die Ladung aus dem Inneren der Schiffe gelöscht, stoben die quiekenden Nager auf und huschten
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