Treue in Zeiten Der Pest
an Deck. Dort bemühten sich Hilfskräfte, die Tiere mit brennenden Fackeln ins Wasser zu treiben. Wenn die Ratten daraus wieder auftauchten, schwammen sie an Land und suchten sich ein anderes Schiff. Oder sie streunten in Rudeln durch die Stadt, wo sie sich in Kellern, Gewölben und Fäkalgruben sammelten.
Henri und Uthman brachen in aller Frühe zum Hafen auf. Die Suche nach Joshua hatten sie am vorangegangenen Abend abgebrochen. Sie hatten ihn nicht finden können und ihre diesbezüglichen Sorgen zunächst auch beiseite gelegt, denn sie wussten, dass ihr Freund ziemlich eigensinnig war und oft jähen Impulsen folgte, die ihn dazu drängten, aufzubrechen, um sich etwas anzuschauen, mit sich und seinem Gott allein zu sein oder um Kräuter zu sammeln. Danach tauchte er in der Regel von selbst wieder auf, und darauf warteten sie nun.
Als die Freunde den Hafen erreichten, in dem kleine Schiffe und Kähne dümpelten, begann es zu regnen. Das Gewitter der vorangegangenen Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, doch jetzt setzte endlich der ersehnte Regenguss ein, der das Gefühl vermittelte, er könne jede Bedrohung wegspülen.
Henri und Uthman sondierten die Lage. Auf den ersten Blick wirkte alles ruhig. Die Geschäfte schienen ihren gewohnten Gang zu nehmen. Erst als die beiden genauer hinsahen, bemerkten sie die ungewöhnlich große Rattenplage und die verzweifelten Versuche der Bootsleute, ihrer Herr zu werden. Außerdem stach den Freunden ein verkrüppelter alter Mann ins Auge. Er konnte seine Beine nicht mehr gebrauchen und bewegte sich nur mit Hilfe seiner Arme vorwärts. Jetzt saß er am Rand des Hafenbeckens und spielte mit ein paar toten Ratten.
Die beiden Gefährten gingen auf den Mann zu.
»Lass das besser sein, guter Mann«, sagte Henri. »Die Ratten könnten Krankheiten übertragen!«
Der Alte schaute aus verklebten, geröteten Augen zu ihm auf. »Ratten? Wie sollten mir tote, elendige Ratten irgendetwas übertragen, selbst wenn es nur eine dreckige Krankheit wäre?
An denen ist doch nichts mehr dran. Denen geht’s noch elender als mir. Sie sind nicht gekommen, um etwas zu geben, sondern um zu sterben!«
»Lass es dennoch besser sein«, sagte Uthman. Er trat näher und stieß die toten Tiere mit dem Stiefel ins Hafenwasser.
Der Alte lachte schrill, als er das sah. »Habt Ihr schon gehört, dass es bald wurmiges Wasser regnen soll? Feuerbälle sollen vom Himmel fallen, so groß wie ein Menschenkopf! Sie werden alles Land und alle Güter verbrennen und einen Rauch erzeugen, der jeden töten wird, der auch nur hineinblickt.«
»Ja, ja, mein Alter, du hast sicher Recht!« Henri hatte dem Krüppel die Hand auf den Kopf gelegt. »Dennoch solltest du besser von hier verschwinden. Die Stadt hier ist zurzeit nicht weniger gefährlich als deine Menschenköpfe. Die Ratten sind eine schlimme Plage.«
Der Alte murmelte etwas vor sich hin, das die Freunde nicht verstanden, und kroch dann auf seinen lahmen Beinen davon.
Henri und Uthman bestiegen eine kleine Barke mit gerefftem Segel. Schon während sie mit dem Alten gesprochen hatten, war ihnen aufgefallen, dass es Probleme an Bord gab. Mehrere recht verlottert aussehende Matrosen kämpften mit einem Rudel Ratten, die auf dem Deck hin und her huschten, aber nicht zu vertreiben waren.
Die beiden Freunde unterstützten die Seeleute in ihrem aussichtslos scheinenden Kampf, so gut sie konnten. Mit brennenden Fackeln, die sie aus einer Halterung rissen, und viel Geduld gelang es ihnen schließlich, die Tiere von Deck zu verscheuchen. Das ganze Rattenrudel sprang ins Wasser.
»Vielen Dank!«, sagte der Führer der Barke aufatmend. »Wer seid Ihr?«
Henri stellte sich und Uthman vor. Dann sagte er zu allen: »Ihr müsst eure Schiffe unbedingt verbrennen! Denn wenn ihr es nicht tut, wird die Pest die ganze Stadt vernichten!«
Der Führer der Barke blickte Henri zunächst fassungslos an. Dann begann er, hemmungslos zu lachen. Einige der Matrosen fielen in sein Gelächter ein, doch es klang nur laut und aufgesetzt.
»Seid Ihr wahnsinnig?«, sagte der Barkenführer. »Wir sollen den Ast absägen, auf dem wir sitzen? Selbst wenn der Stadthauptmann das anordnete, würden wir es nicht tun. Wie sollen wir ohne Schiffe unsere Familien ernähren?«
»Wir verstehen Euch«, sagte Henri. »Doch es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass die Ratten die Pest übertragen. Vielleicht haben sie auch euch schon angesteckt. Die Seuche ist unberechenbar und erbarmungslos, vor allem
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