Treue in Zeiten Der Pest
ihr in der Tat sehr vorbildlich«, lobte Henri die beiden. »Und es kommt auch der Kranken zugute. Nun geht aber bitte hinauf und helft meinem Knappen Sean bei seinem Krankendienst, er hat es im Moment wirklich nicht leicht.«
»Ja, Herr!«, erwiderten der Hausbesorger und seine Frau und gingen ins Haus zurück.
Sie reden von der corruptio aeris, dachte Henri, als wüssten sie über alles Bescheid. Und doch haben sie keine Ahnung. Niemand weiß etwas Genaues. Wir sind alle unwissend wie Kinder. Und genau das ist vielleicht der Grund dafür, warum die Pest uns alle töten wird.
In den nächsten Tagen zeigte die Seuche ihr gefährlichstes Gesicht, nämlich das getarnte, das sie unsichtbar erscheinen ließ und die Menschen in trügerischer Sicherheit wiegte. Wo kurz zuvor noch einsam, unheimlich und schrecklich gelitten und gestorben worden war, schien der Albtraum plötzlich beendet. An manchen Tagen hatten die Einwohner von Quimper das Gefühl, alles sei überstanden. Niemand steckte sich mehr an, die Kranken fühlten sich gesund, alle Türen und Fenster wurden aufgerissen, und ein frischer Wind fuhr durch die Krankenstuben. Aus allen Fenstern hingen an diesen Tagen weiße Bettlaken, Kleider, Decken und andere Wäsche. Wind und Sonne waren doch die beste Medizin!
An einem solchen Tag führte Sean of Ardchatten Angélique in die Stadt hinaus.
Der Alltag war wieder eingekehrt. Die Geschäfte gingen voran. Angélique ließ sich durch die Stadt führen und bestaunte mit großen Augen die Läden, die Geschäfte, die Handwerksstuben und die emsig arbeitenden Menschen. Doch die junge Frau hatte sich seltsam verändert. Zwar wirkte sie nicht mehr krank, doch schien das Fieber etwas in ihr ausgelöscht zu haben. Sean glaubte, es habe mit der Todesangst zu tun. Aber wer konnte wissen, was im Inneren eines todgeweihten Menschen vor sich ging?
Angélique wirkte auf Sean ganz fremd. Und er fragte sich, ob sie überhaupt noch das Mädchen war, das er so sehr liebte.
6
Anfang Mai 1318. Joshua
In dem fensterlosen Raum herrschte völlige Dunkelheit. Er war feucht und roch nach Ausscheidungen. Eine nackte Holzpritsche war das einzige Mobiliar. Joshua wurde von einem ständigen Würgen geplagt. Die Übelkeit wuchs sich bald zu einer Art Schüttelfrost aus, der seinen ganzen Körper in Zuckungen versetzte, und als diese wieder nachließen, merkte Joshua, dass er fror.
Er wusste nicht, wo er war. Das Einzige, was ihn umgab, waren Dunkelheit und Stille. Kein Lichtstrahl und klein Laut drangen von außen in seine Zelle hinein. Zweimal am Tag öffnete sich eine kleine Luke, und ein Napf mit einer dünnen Suppe sowie ein Becher Wasser wurden ihm vorgesetzt. Diese Nahrungsübergabe war sein einziger Kontakt zur Außenwelt.
Gesprochen hatte er, seit er hier war, mit niemandem. Einmal hatte er versucht, mit seinem Wächter Kontakt aufzunehmen. Aber der hatte ihm nicht geantwortet, sondern ihm lediglich das Essen zugeschoben und die Luke krachend wieder zugeschlagen.
Wohin haben sie mich nur gebracht?, fragte sich Joshua. Und wer ist dafür verantwortlich, dass ich hier festgehalten werde? Er hatte nur eine undeutliche Erinnerung an die Ereignisse, die ihn in sein Gefängnis geführt hatten.
Ein Satz aus dem Evangelium des Johannes fiel ihm ein. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie die Rebe; sie aber verdorrt, und man trägt sie alle zusammen und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.
Auch mich werden sie verbrennen, auslöschen, vergessen, dachte Joshua. Er wusste, was Hass bedeutete, Hass von Menschen, die in Wahrheit immer nur sich selbst hassten und jemanden suchten, auf den sie ihren Hass abladen konnten.
Das Einzige, woran sich Joshua orientieren konnte, war das Auf- und Zuklappen der Essensluke. Immer wieder fragte er sich, wie es seinen Freunden erging. Würden sie nach ihm suchen? Gewiss würden sie das! Aber würden sie ihn auch finden? Das war weniger gewiss.
Als im dies bewusst wurde, spürte Joshua eine derartige Sehnsucht nach seinen Freunden, nach Freiheit, nach Licht und nach Sonne, dass er seinen Kopf in den Händen verbarg, um seine Gedanken beisammen zu halten. Das Essen rührte er nicht an.
Was konnte er tun? An Flucht war nicht zu denken. Selbst wenn es ihm gelänge, der Zelle zu entfliehen und das Gefängnis zu verlassen – was vollkommen unmöglich schien –, wie sollte er seinen Verfolgern, die er gar nicht kannte, außerhalb dieser Mauern entkommen?
Joshua
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