Treue in Zeiten Der Pest
glitt von der Holzpritsche herunter und stellte sich aufrecht hin. Mit nach vorne ausgestreckten Armen erkundete er seine Zelle. Er tastete sich von Wand zu Wand, ging zunächst vier Meter nach rechts und dann weiter. Er versuchte, den Gestank der Exkremente zu vergessen, die er und die Gefangenen, die offenbar vor ihm hier gewesen waren, hinterlassen hatten. Und er versuchte, für eine Weile nichts mehr zu denken. Er konzentrierte sich allein auf seine Schritte. Eins, zwei, drei, vier – Kehrtwendung. Eins, zwei, drei, vier – irgendwann kamen die Gedanken allerdings zurück.
Was wollen sie von mir?
Wessen habe ich mich schuldig gemacht?
Werde ich sterben? In diesem Loch?
Viele von Joshuas Glaubensbrüdern hatten eine Verurteilung wie ein Gottesgericht hingenommen, hatten Verfolgung und Folter erduldet. Viele seiner Familienmitglieder waren einem Pogrom zum Opfer gefallen.
Er wollte sich wehren.
Joshua begann zu beten. Er erbat Gottes Beistand im Kampf gegen seine erbarmungslosen Widersacher. Dabei kam ihm ein Psalm Davids in den Sinn.
Gott, mein Ruhm und meine Zuversicht, schweige nicht!
Ja, dachte Joshua, ich muss Gott in mir zum Reden bringen. Ich muss mit ihm sprechen. Dann werden die Mauern, die mich umgeben, vielleicht durchlässig.
Sie haben ihr gottloses Lügenmaul wider mich aufgetan. Sie reden wider mich mit falscher Zunge und reden giftig über mich allenthalben und streiten wider mich ohne Grund.
Joshua ertappte sich dabei, dass er zunehmend davon überzeugt war, in diesem finsteren Loch sein Leben zu beenden. Dieser Gedanke mutete ihn kleingläubig an, doch wie viel Hoffnung konnte er darin setzen, dass es anders kam?
Plötzlich wurde die Luke geöffnet. Joshua stutzte, denn seiner Meinung nach war es eigentlich noch zu früh für seine Mahlzeit. Er tastete sich an der Wand entlang, plötzlich trat er auf etwas Weiches, Lebendiges, das unter seinen Füßen zappelte, bevor es sich seinem Tritt quiekend entwand. Joshua erschrak zu Tode. Sie wollen mich also tatsächlich töten, dachte er. Und dann auch noch auf so feige, niederträchtige Weise.
Es waren zwei Ratten, die Joshua schließlich in seiner Zelle aufspürte. Als er sich wieder auf seine Pritsche setzte, schnupperten sie an ihm herum. Der nagende Schmerz eines Bisses in seinen Fuß ließ ihn allerdings rasch wieder hochschnellen. Angeekelt trat er nach den widerlichen Tieren. Er begann, sie zu jagen, und nach einer Weile hatte er beiden den Hals umgedreht. Die pelzigen Überreste warf er in eine Ecke. Anschließend war ihm noch übler als zuvor.
Dafür, dass ich sie liebe, feinden sie mich an, dachte er. Und er setzte sein abgebrochenes Gebet fort. Sie hassen mich, ich bete. Sie erweisen mir Böses für Gutes und Hass für Liebe.
Aber was wollen sie von mir?, fragte sich Joshua zum wiederholten Mal. Sie kommen nicht, um mich zu verhören. Sie foltern mich nicht. Sie wollen nichts von mir erfahren. Sie wollen mich offenbar einfach nur verschwinden lassen, war seine letzte, schreckliche Erkenntnis. Ich soll für irgendetwas büßen und weiß nicht einmal, wofür. So war es immer. Stets wurden die Juden als Sündenböcke herangezogen, und nur selten erfuhren sie, worin ihre Schuld eigentlich bestand.
Können wir den Spieß nicht einfach einmal umdrehen, Herr?, fragte sich Joshua. Können nicht einmal wir Juden diejenigen sein, die richten und urteilen? Sind wir dazu auserkoren, immer nur die Opfer zu sein? Ich ertrage diese Rolle nicht mehr, dachte Joshua, und wenn ich auch sonst überall schweigen muss, zumindest im Gebet möchte ich meinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass dies einmal anders wird.
Gib ihm einen Gottlosen zum Gegner. Und ein Verkläger stehe zu seiner Rechten. Wenn er gerichtet wird, soll er schuldig gesprochen werden, und sein Gebet werde zur Sünde. Seiner Tage sollen wenige werden, und sein Amt soll ein andrer empfangen. Seine Kinder sollen Waisen werden und sein Weib eine Witwe. Seine Kinder sollen umherirren und betteln und vertrieben werden aus ihren Trümmern.
Joshua hielt inne. Hatte er da nicht gerade ein Geräusch gehört? Er lauschte. Doch alles blieb totenstill.
Es soll der Wucherer alles fordern, was er hat, und Fremde sollen seine Güter rauben. Und niemand soll ihm Gutes tun, und niemand erbarme sich seiner Waisen. Seine Nachkommen sollen ausgerottet werden, ihr Name soll schon im zweiten Glied getilgt werden. Der Schuld seiner Väter soll gedacht werden vor dem Herrn, und seiner Mutter Sünde soll
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