Treue in Zeiten Der Pest
freuen. Meine Widersacher sollen mit Schmach angezogen und mit ihrer Schande bekleidet werden wie mit einem Mantel. Ich will dem Herrn sehr danken mit meinem Munde und ihn rühmen vor der Menge. Denn er steht dem Armen zur Rechten, dass er ihm helfe von denen, die ihn verurteilen.
Als er den Psalm beendet hatte, verlor Joshua alle Kraft. Sein Gedankenstrom verebbte, und er brach bewusstlos auf seiner Pritsche zusammen.
Maire Michel dachte nach. Was sollte er jetzt tun? Eine Hand voll Menschen war unter rätselhaften Umständen zu Tode gekommen. Und die Rattenplage nahm zu. Das Wort Pest war auch schon gefallen, doch davon wollte er nichts hören.
Das Tod bringende Übel konnte nur ein erbitterter Feind über die Stadt gebracht haben. Wurde dieser eliminiert, war auch die Krankheit besiegt.
Maire Michel wusste, dass die rätselhafte Krankheit auch jetzt, in diesem Augenblick, zwei oder drei Menschen befiel und sie mehr oder weniger rasch dahinraffte. Das musste aufhören. Denn Quimper brauchte Ordnung, Gesundheit und Ruhe.
Und damit war die Lösung vorgezeichnet. Es war so einfach, dass er gar nicht wusste, warum er nicht früher darauf gekommen war. Die Ärzte mussten gezügelt und die Priester angespornt werden. Das sinnlose Klagen musste endlich aufhören. Dann würde sich der dunkle Schatten, der sich über die Stadt gelegt hatte, rasch verziehen. Man musste nur die ewigen Nörgler und Mahner ausschalten, dann würde auch die Seuche vergehen. Denn das, worüber man nicht sprach, existierte nicht.
Der Bürgermeister trat ans Fenster und blickte auf die Stadt hinab. Es war seine Stadt. Er würde um sie kämpfen, wie man es von ihm erwartete.
In der Amtsstube war es stickig. Mit heftigen Bewegungen fächelte Maire Michel die schlechte Luft durch das offene Fenster hinaus. Dann atmete er einmal tief ein und aus, reckte seine Arme zum Himmel und schüttelte sie, um den stechenden Schmerz in seinen Schultern zu vertreiben.
Natürlich musste auch die trübselige, hasserfüllte Stimmung abgewendet werden, die seit Tagen auf Quimper lastete und die Einwohner demoralisierte. Viele Kleriker, Notare und Beamte versuchten, Gewinn aus der aktuellen Krise zu ziehen und den Erkrankten Geld abzupressen. Das verärgerte die Angehörigen, die selbst wiederum Gesetze übertraten, um zu ihrem Recht zu kommen. Die Stimmung musste unbedingt gehoben werden. Der Bürgermeister dachte daran, öffentliche Feste anzuordnen, es musste gelacht, gescherzt und gefeiert werden. Auch die Leichenbegängnisse und Totenmahle mussten fröhlich begangen werden!
Und die Preise für Lebensmittel mussten gedrosselt werden. Sie stiegen in diesen Tagen allzu sprunghaft an. Backwaren und Zucker waren schon maßlos überteuert, ebenso Hühner und Eier. Seine Ratgeber hatten ihm gesagt, wer an einem einzigen Tag drei Eier in Quimper kaufen konnte, konnte sich bereits zu den Reichen zählen. Der Wachspreis stieg stündlich wegen des hohen Bedarfs an Toten- und Mahnkerzen. Es war daher angebracht, die Zahl der zu kaufenden Kerzen auf zwei pro Person zu begrenzen. Das würde auch verhindern, dass Gerüchte aufkamen, die die Vorstellung verbreiteten, dass sich in Quimper bereits jeder zum Sterben bereitmachte.
Die Apotheker und die Totengräber mussten daran gehindert werden, Bahren, Decken und Kissen für Leichenfeiern zu Höchstpreisen zu verhökern. Leichenbekleidung musste billiger werden statt teurer, damit die Bevölkerung glauben konnte, die Gefahr sei gebannt. Die Priester mussten ihren Beistand kostenlos leisten, und – das war vielleicht das Allerwichtigste – das Läuten der Sterbeglocken musste aufhören! Ihr Klang versetzte die Menschen in Verzweiflung, ganz gleich, ob Kranke oder Gesunde.
Außerdem, dachte Maire Michel, werde ich veranlassen, dass neue Gräber nur nachts ausgehoben und die Toten auch nur noch des Nachts bestattet werden dürfen.
Das alles werde ich tun, dachte er, damit der Jammer aufhört. Denn das Gerede über die Pest kann die Krankheit nicht besiegen. Nur der Geist kann sie ausrotten, indem er sie ignoriert.
Abrupt machte der Bürgermeister kehrt und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Das Wichtigste ist, dass die Menschen beschäftigt werden, dachte er. Wer arbeitet, hat keine Zeit zu grübeln, das gilt es zu bedenken.
Und so stürzte er sich selbst in die Arbeit.
Er erließ Dekrete, die jedem mit Verhaftung drohten, der das Gerede von einer Seuche, die einen unaussprechlichen Namen trug, nicht
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