Treue in Zeiten Der Pest
Quimper dehnte sich mehr und mehr aus, und je größer sie wurde, desto heftigere Szenen spielten sich dort ab. Zeitweise wurden regelrechte Versammlungen abgehalten, auf denen sich die Wut der Beteiligten immer mehr steigerte. Die Arbeiter der Bauhütte heizten regelmäßig die Stimmung an. Mit jedem Tag, der weitere Seuchenopfer brachte, wurden die Forderungen nach Vergeltung lauter.
»Ihr gottloses Verbrechen hat sie auf ewig gebrandmarkt! Auf ihnen lastet die Blutschuld! Sie sind mit der Blindheit des Geistes geschlagen, deshalb soll uns nichts gemein machen mit diesem verhassten Volk!«
Bravorufe und aufbrandender Applaus begleiteten diese Rede. Der Sprecher stand auf einer Apfelkiste. Um ihn herum hatten sich an diesem Morgen Hunderte Eiferer versammelt.
»Wir müssen die Synagoge des Satans auslöschen! Die Gottesmörder sind wieder ausgeschwärmt, um uns zu vernichten. Wir dürfen mit ihnen keine Nachsicht üben.«
»Stopft ihnen den Talmud ins Maul!«
»Aber es gibt doch kaum Juden in Quimper.«
»Du bist wohl selbst einer, was?«
»Natürlich, ich trinke Kinderblut und beschneide mir den Penis. Und dich fresse ich gleich.«
»In Verdun-sur-Garonne haben die Juden von einem Turm herab Steine und Balken auf Christenmenschen geworfen. Sogar ihre eigenen Kinder schleuderten sie herab.«
»Diese Unmenschen!«
»Das taten sie doch nur, weil man sie verfolgte und ermorden wollte! Bevor sie sich von Unbeschnittenen töten ließen, wählten sie lieber den stärksten aus ihrer Mitte, um sie alle zu erwürgen. Dieser tötete fünfhundert!«
»Du musst tatsächlich einer von ihnen sein, du Hund. Kein guter Christ führt Gründe an, die für einen Juden sprechen!«
»Aber genau daran liegt es doch, dass die Juden ständig verfolgt werden. Und hör auf, mich für einen Juden zu halten, nur weil ich für meinen Nächsten eintrete, wie jeder gute Christenmensch es tun sollte.«
»Wollen wir abwarten, bis in unserer Kirche die ersten blutigen Hostien auftauchen? Vielleicht ist schon jetzt alles besudelt! Wir müssen uns wehren, bevor das Schlimmste geschieht. Schlachten wir die Juden!«
In diesem Moment trat ein Prediger aus der Kirche, den die Menge nicht kannte. Es war ein Mann mit einem weichen Gesicht und dicken Stirnwülsten über tief liegenden Augen. An seiner Seite befand sich Maire Michel. Der Bürgermeister hob die Arme und forderte die Menge auf, Ruhe einkehren zu lassen. Dann trat er selbst auf die Apfelkiste.
»Hört mich an, ihr Leute! Wir haben Besuch aus Nantes. Priester Johannes ist gekommen, um uns mitzuteilen, was in den Küstenstädten weiter südlich geschieht. Überall im Land wehren sich Einwohner gegen die Rückkehr der Juden, die wir vor ein paar Jahren schon einmal vertrieben haben. Hört Priester Johannes an! Er spricht die Wahrheit, aber bedenkt, dass er auch zur Besonnenheit auffordert. Eine Seuche grassiert in unserer Stadt, und die Schuldigen müssen unbedingt bestraft werden, darin sind wir uns alle einig. Aber das darf nur auf Anweisung der Obrigkeit hin geschehen, sonst verstärkt sich das herrschende Chaos nur noch mehr.«
Als der Bürgermeister geendet hatte, stieg der fremde Prediger auf die Apfelkiste.
»Liebe Bürger von Quimper!«, sagte er. »In Nantes brennt die Synagoge! Und das Ghetto der Juden wird belagert. Niemand kann heraus. Aber hier in eurer Stadt gibt es kaum Juden und auch kein Ghetto. Was also ist zu tun?«
»Es sind genug Juden in der Stadt!«, rief ein kräftiger Steinbrecher mit fleckiger Lederschürze. »Und sie alle haben unsere Brunnen vergiftet! Warum sonst sollten hier in Quimper, das so sauber ist wie kaum eine andere Stadt, so viele Menschen sterben? Heute Nacht sind sie sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Sie haben im Hafen alle Barken angezündet und versenkt. Und warum? Damit wir nicht mehr aus Quimper fliehen können. Niemand soll entkommen. Wir sollen alle getötet werden!«
»Ganz genau, sie wollen uns ausrotten!«, schrie ein über und über mit feinem Staub bedeckter Steinträger.
»Bewahrt Ruhe, ihr Bürger!«, bat Priester Johannes die Menge, und dabei grub sich ein mit vielen Falten daherkommendes Lächeln in sein weiches Gesicht. »Seid nicht zu voreilig! Denn ihr wollt doch kein Pogrom anzetteln? Erinnert euch daran, wie der Heilige Vater vor kurzem gegen die Ausplünderung und Tötung von Juden ohne Gerichtsverfahren ausdrücklich seine Stimme erhoben hat.«
»Der König als guter Christenmensch aber sagt, dass die Juden
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