Treue in Zeiten Der Pest
Leben.«
»Welch kuriose Antwort, so etwas habe ich noch nie gehört. Aber versteht mich nicht falsch, ich bin ja bereit zu sterben, wenn es sein muss. Sterben müssen wir alle einmal. Ich will nur das Richtige tun und mein Leben nicht sinnlos verplempern!«
»Dann macht eine Wallfahrt, wenn sie Euch sinnvoll erscheint«, sagte Henri. »Aber jetzt müssen wir leider gehen, André. Wir würden gerne länger mit Euch über Eure Sorgen sprechen, doch wir müssen zum Rathaus!«
Henris letzte Worte schien André jedoch zu überhören. Unbeirrt sprach er weiter: »Überall sehe ich die Tafelbilder, Reliefs, Skulpturen und Fresken, die uns an den Tod erinnern sollen. Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Ich weiß das ja. Ich weiß es genau. Aber weiß es auch meine Frau? Sie klagt nur in einem fort! Dabei müssen wir unser Schicksal doch hinnehmen. Uns allen ist ein bestimmter Platz in der Hierarchie des Lebens zugewiesen, und auf diesem wandern wir zum Himmelstor oder fallen in den Höllenrachen, so ist es nun mal! Aber jetzt, wo uns der Tod mit seiner hässlichen Fratze so nahe ist, weiß ich nicht mehr ein noch aus. Was ist mit dieser Seuche? Könnt Ihr mir raten, gute Herren?«
»André!«, sagte Henri. »Komm zu dir. Du redest wirr! Es ist noch lange nicht gesagt, dass wir alle sterben werden. Krankheiten können bekämpft werden.«
»Aber ich habe das Gefühl, die Gräber sind schon alle ausgehoben. Und offene Gräber wollen belegt sein!«
»Das sind Traumgesichte, André. Es stimmt zwar, dass wir zu jeder Zeit und an jedem Ort auf das Ende vorbereitet sein sollten. Aber noch wandeln wir doch unbeirrt auf irdischen Pfaden. Und wir sind gesund. Was also klagst du, Mann?«
»Ach, wer weiß, wie lange wir noch gesund sind, Herr. Mein Nachbar ist schon gestorben, und seine Frau ist erkrankt.«
»Du musst an die guten Dinge denken«, sagte Henri, »so lässt sich alles leichter ertragen.«
»Teuflische Schmerzen kann man sich immer besser vorstellen als ewiges, himmlisches Glück! Deshalb habe ich Angst!«
»Der Tod trifft jeden, André, Arme und Reiche, Frauen und Männer, Greise und Kinder. Wir tanzen jeden Tag mit dem Tod. Eines Tages holt die Seuche oder etwas anderes dich und auch mich. Doch bis dahin ist es besser, sich nicht vor dem zu ängstigen, was kommt, sondern an dem zu erfreuen, was ist. Du lebst, André, das ist das Wichtigste!«
»Ja, Herr! Doch meine Frau…«
»Wir müssen gehen, André!«
»Wartet noch! Ich glaube…«
»In diesem Augenblick befindet sich ein Mensch, den wir kennen und der uns lieb und teuer ist, in höchster Not«, sagte Uthman. Er hatte Henri bereits am Arm gepackt und drängte ihn weiterzugehen. »Er braucht unsere Hilfe im Moment nötiger als du, André!«
Enttäuscht und ein wenig beschämt schwieg der Hausbesorger.
Henri riet: »Besuche eine Messe, André! Und mache eine Wallfahrt nach Locmaire! Wenn du Gott an deiner Seite spürst, wird es leichter für dich sein.«
»Ja, Herr de Roslin!«
»Die kleinen Leute«, sagte Uthman, als sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, »sind noch viel verwirrter als wir. Niemand sagt ihnen die Wahrheit. Jeder tut so, als könne er ihnen helfen. Hier belügt sie ein Arzt, dort ein Priester. Ich verstehe, dass sie in diesen Tagen nicht weiterwissen.«
»Wer klagt und jammert, hat immerhin verstanden, dass der Tod allgegenwärtig ist«, meinte Henri, als sie in den Rathausplatz einbogen. »Mir hilft es stets, die Memorientage zu begehen, um dem Tod in meinem Leben zu begegnen.«
»Ja, aber du bist auch ein aufrichtiger Christ, Henri. Doch wem gilt dieser Trost sonst noch etwas?«
»Urteile nicht schlecht über die Christenheit, Uthman! Es gibt viele unter uns, die…«
Henris Satz wurde von Glockengeläut und Gesang unterbrochen. Ein Leichenkarren polterte an ihnen vorbei, und der schwarz gekleidete Kutscher sang: »An dieser Gestalt sollt ihr es sehen, es wird euch allen genauso ergehen…«
Henri blickte dem Karren nach. Die Pferde trotteten müde dahin, das schwarz ausgeschlagene Gefährt ächzte und stöhnte unter der Last eines schweren Sargs, und die Glöckchen klangen Mitleid erregend.
Als sie am Rathaus ankamen, trennten sie sich. Uthman wollte am Platz vor der Kathedrale mit seinen Nachforschungen zu Joshuas Aufenthaltsort beginnen. Henri band sein Pferd an und ging sofort ins Rathaus.
Zu seinem Unmut musste Henri dort erfahren, dass der Bürgermeister nicht anwesend war und sogar schon dringend vom
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