Treue in Zeiten Der Pest
persönliche Ansicht. Er wird einer Mehrheit in der Bevölkerung eingepflanzt und entlädt sich regelmäßig in blutigen Pogromen. Ich habe solche in Speyer erlebt, einer deutschen Stadt am Rhein, mit einer einstmals sehr großen Judengemeinde. Was dort geschah, war äußerst grausam – und absolut unpersönlich!«
»Das mag stimmen. Dennoch…«
Draußen pochte es an der Tür. Monacis hob alarmiert den Kopf. Er blickte seine Gäste an und stand auf.
»Erwartet Ihr noch Besuch, Medicus?«, fragte Henri.
»Zu mir kommt immer jemand, der sich nicht angemeldet hat«, erwiderte der Arzt mit einem merkwürdigen Lächeln.
»Sollen wir verschwinden?«, fragte Sean kleinlaut.
»Auf keinen Fall«, erwiderte Monacis. Und dann ging er in den Flur, um zu öffnen.
»Es ist gleich Mitternacht, wer kommt noch so spät?«, fragte Sean flüsternd.
»Ich weiß es nicht«, sagte Henri. »Wenn die Dunkelheit angebrochen ist, sind alle Gäste unwillkommen, aber das heißt nicht, dass sie Böses im Schilde führen.«
»Traust du dem Arzt?«
»Er hat uns eingelassen. Wir müssen ihm trauen, solange er uns keinen Grund gibt, das Gegenteil zu tun.«
Draußen im Flur waren jetzt Stimmen zu hören.
Uthman sah, wie die Menge wogte. Er bemerkte, wie sie die Stimmung wechselte und einem Tier gleich fauchte, schnurrte und sich auf die Lauer legte. Wenn dieses Tier so weit war, sich auf ihn zu stürzen, wollte er gewappnet sein. Als ihn jemand beschuldigte, ein Giftmischer zu sein, zog er sich so unauffällig wie möglich zurück. Er flüchtete sich in einen kleinen hölzernen Bauschuppen und beobachtete von dort aus, was draußen geschah.
Sofort gerieten Henri und Sean in seinen Blick, doch er hielt sich weiter bedeckt, da er ahnte, dass er ihnen möglicherweise nützlicher sein konnte, wenn die Menge ihn nicht bemerkte. Auf diese Weise verlor er die Freunde jedoch zum ersten Mal: Während er so dastand und beobachtete, verdeckten ihm die Leute, die vor der Hütte standen, immer wieder die Sicht. Und als er endlich wieder freien Blick hatte, war die Stelle leer, an der die Freunde zuvor noch gestanden hatten. Gleichzeitig war draußen ein Tumult losgebrochen.
Uthman war mulmig zumute, und er schlich sich vorsichtig aus seinem Versteck. Als er erkannte, dass sich die Umstehenden nicht für ihn interessierten, umrundete er auf der Suche nach den Freunden mit schnellen Schritten den Platz. Dabei sah er, wie Einwohner mit Fackeln und Spießen hinter zwei Männern auf einem Pferd herrannten. Es waren Henri und Sean!
Uthman war alarmiert. Dennoch musste er insgeheim ein wenig schmunzeln. Diese Situation war ihm nur allzu bekannt. Henri würde sie sicher bravourös meistern. Er hatte den Freund schon oft mit einem zweiten Reiter auf seinem Pferd gesehen. Zuweilen war er es selbst gewesen, der hinter Henri gesessen hatte, und in der Regel waren sie dann, wie hier, vor einer mehr oder weniger großen Horde aufgebrachter Verfolger geflüchtet – immer erfolgreich.
Uthman, der die Freunde abermals aus dem Blick verloren hatte, lief den Verfolgern durch enge Gassen hinterher. Wo diese sind, dachte er, können auch die Verfolgten nicht weit sein. Und da sah er Henri und Sean auch schon wieder. Sie bogen in eine Gasse an der Stadtmauer ein.
Als Uthman dort ankam, waren sie allerdings abermals verschwunden. Selbst die Verfolger schienen sie nicht mehr zu sehen. Uthman stutzte. Wo waren die Freunde geblieben? Die Stadttore waren geschlossen. Die beiden mussten sich also noch innerhalb der Mauern befinden. Uthman spähte in alle Himmelsrichtungen, doch die Freunde blieben unsichtbar. Nach und nach zerstreute sich die aufgebrachte Menge. Aus den feindseligen Verfolgern wurden wieder friedliche Bürger. Und bald schon wurde es in der Gasse wieder still.
Uthman überdachte die Lage. Die Freunde konnten sich unmöglich ohne fremde Hilfe gerettet haben. Was also war geschehen?
Er erkundete das Terrain. Am Tor de Auvergne blieb er stehen. Der leicht erhöhte Platz verschaffte ihm einen guten Überblick über die Stadt. Inzwischen brannten überall Feuer und Fackeln. An der Kathedrale war es zu einem Großaufmarsch von Geißlern gekommen, die Einwohner von Quimper schienen ihnen ganz und gar ergeben zu sein.
Nach einer Weile erblickte Uthman am anderen Ende der Stadt, dort, wo der Mont Frugy sich erhob, funkelnde Lichter. Es sah aus, als gehörten sie zu einer Prozession. Vielleicht waren es die Geißler, die nun mit brennenden Fackeln nach
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