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Treue in Zeiten Der Pest

Treue in Zeiten Der Pest

Titel: Treue in Zeiten Der Pest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
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im Schatten der Mauer aus erkundete er die Umgebung. Auf den Wandelgängen über dem Wehrbau hatten sich Soldaten versammelt. Sie beobachteten die aufgebrachte Menge, ließen sie aber gewähren. Einer von ihnen rief lediglich von Zeit zu Zeit:
    »Geht doch nach Hause. Eure Frauen sorgen sich sicher schon um euch. Geht zu ihnen und beruhigt sie.«
    Allmählich ebbte der Lärm tatsächlich ab, und immer mehr Männer trotteten nach Hause. Schließlich standen nur noch drei junge Kerle vor dem Bau, dessen Zugang durch eine eiserne Tür versperrt war. Vor der Tür hatten sich zwei Bewaffnete postiert. Die jungen Kerle waren hartnäckig, doch nach einer Weile verzogen auch sie sich. Die beiden Soldaten vor dem Eingang atmeten erleichtert auf, zogen sich ins Innere des Gebäudes zurück und verriegelten den Zugang. Kurz darauf zerstreuten sich auch die Soldaten auf den Zinnen. Henri hörte, wie sie mit gleichmäßigen Schritten ihre übliche Patrouille fortsetzten.
    Er überlegte, ob es ihm gelingen könnte, in das Gebäude einzudringen, doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Er hatte gesehen, wie gut der Bau bewacht wurde. Und selbst wenn er es geschafft hätte hineinzukommen, er wusste ja nicht, ob Joshua sich tatsächlich darin befand, und wenn ja, wo genau er gefangen gehalten wurde.
    Interessant war allerdings, dass man Joshua, wenn er denn hier festgehalten wurde, so scharf bewachte. Er musste für die Ratsherren ein ziemlich wichtiger Gefangener sein, der ihnen, das wurde Henri jetzt erleichtert bewusst, lebend anscheinend wichtiger war als tot. Allerdings stellte sich die Frage, wie lange dem noch so sein mochte.
    Henri zögerte. Seine Gedanken wanderten hin und her. In dieser Situation war es eigentlich unverantwortlich, nicht zumindest zu versuchen, in das Gebäude zu gelangen und es auszukundschaften – selbst wenn es gefährlich war. Es ging immerhin um Joshua. Und wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, hineinzukommen, dann im Schutz der Nacht. Henri blickte zum Himmel hinauf. Der Mond befand sich bereits auf seiner Abwärtsbahn. Viel Zeit würde ihm nicht mehr bleiben, bis der Morgen graute.
    Henri lauschte. Es war jetzt totenstill in der Stadt, auch die Schritte der Wachhabenden waren verklungen. Aus dem Wehrbau selbst war ebenfalls nichts zu hören. Das Gebäude hatte dicke Mauern. Im oberen Bereich sah man zwei winzige Fenster, darüber befanden sich die Wandelgänge der Stadtmauer.
    Henri überlegte. Bei einem Gefängnis wie diesem, das in die Stadtmauer eingebaut worden war, befanden sich die Zellen aller Wahrscheinlichkeit nach im hinteren Teil oder in der Tiefe des Gebäudes. Wenn ich von vorn nicht hineingelange, dachte Henri, schaffe ich es vielleicht von hinten. Dazu musste er allerdings die Stadtmauer passieren. Und das schien nach dem Aufstand, den man erst vor wenigen Stunden gegen ihn geprobt hatte, ein unmögliches Unterfangen.
    Henri ging hinüber zum Stadttor. Es war, wie vermutet, fest verschlossen. Der Soldat, der über das Tor zu wachen hatte, ließ sich nicht blicken, vielleicht war er eingeschlafen, nachdem endlich Ruhe eingekehrt war. Dennoch war das Tor unpassierbar.
    Plötzlich erblickte Henri etwas, das er auch in Konstantinopel schon einmal gesehen hatte. Eine Kerkaporta. Eine winzige Pforte in der großen Mauer, die dazu diente, Landarbeiter und Tagelöhner in der Frühe auf die Felder hinauszulassen, ohne bereits die schweren Tore öffnen zu müssen.
    Henri frohlockte. In Konstantinopel war es den Kreuzfahrern durch diese Pforte, die durch ein Versehen nicht verschlossen worden war, gelungen, in die Stadt einzudringen. Die Christen hatten die Stadt damals erbärmlich geschändet und verwüstet, bis die Byzantiner sie Jahre später zurückeroberten. Vielleicht konnte eine solche Pforte diesmal einem guten Zweck dienen.
    Als Henri die Kerkaporta überprüfte, fand er sie erwartungsgemäß verschlossen. Zunächst war er enttäuscht, doch dann fiel ihm ein, dass die Pforte sicher bald geöffnet würde. Die ersten Landarbeiter mussten in Kürze erscheinen, denn die Feldarbeit begann im Frühjahr bereits im Morgengrauen. Henri wartete in einem dunklen Winkel in der Nähe der Pforte auf das, was geschehen würde.
    Nach einer Weile kamen tatsächlich ein paar Gestalten die Straße herauf. Es waren neun ärmlich gekleidete Männer, die sich angesichts der morgendlichen Kälte fest in ihre Umhänge gehüllt hatten.
    Henri nutzte die Gelegenheit. Als die Männer die Pforte

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