Treue in Zeiten Der Pest
verließen sie das Haus. Vorsichtig zog Uthman die Tür hinter sich zu. Henri ließ sein Pferd zurück, er wollte es am kommenden Abend holen.
Auf dem Weg durch die jetzt ruhige und menschenleere Stadt begegnete ihnen niemand. Als sie die Herberge erreichten, schlief der Gastwirt bereits. Der langwierige Kampf gegen die Ratten in seinem Haus hatte ihn sicher erschöpft. Seine Frau, die dicke Köchin, saß allerdings noch im Gastraum. Sie wollte den Männern sofort etwas anbieten. Aber Henri winkte ab.
»Unser Gefährte Joshua ben Shimon ist verschwunden«, sagte er. »Wir befürchten, dass er verhaftet wurde, weil er Jude ist. In der Stadt behauptet man, die Juden hätten die Brunnen vergiftet.«
»Aber das haben sie doch auch. Alle sagen es, selbst die Geißler und der Bürgermeister.«
»Denkt nach, Wirtin«, bat Uthman. »In Quimper gibt es doch gar keine Juden. Nur unseren Freund. Und warum sollte ein einzelner Mann die Brunnen einer Stadt vergiften, in der er sich selbst aufhält? Damit bringt er sich doch selbst in Gefahr. Unser Freund wurde unschuldig verhaftet, glaubt mir. Bitte sagt uns, wenn Ihr etwas über seinen Verbleib gehört habt.«
»Ich würde Euch ja gerne helfen«, sagte die Wirtin. »Denn jetzt, wo Ihr es sagt, fällt mir auch auf, dass das Gerede über die Juden nur Geschwätz sein kann. Leider weiß ich aber nichts. In unserer Herberge wird zwar viel geredet. Aber wo Euer Freund ist, weiß niemand.«
»Man hatte ihn zunächst in das Gefängnis unter dem Rathaus gesperrt. Aber dort ist er nicht mehr. Wohin sonst könnte man Gefangene hier bringen?«
»Vielleicht zu den Kerkern im Mont Frugy. Falls es sie wirklich gibt.« Die Wirtin zuckte die Schultern. »Man munkelt zumindest, der ganze Berg sei unterhöhlt, zahlreiche Tunnel und Gewölbe soll es darunter geben.«
»Aber sicher wisst Ihr das nicht?«
»Nein, ich habe nur gehört, wie jemand davon sprach.«
»Könnt Ihr uns denn mit jemandem zusammenbringen, der eher wissen könnte, wo unser Freund gefangen gehalten wird?«
»Ich kann versuchen, jemanden zu finden. Aber erst morgen. Jetzt gehe ich schlafen. Und das solltet Ihr auch tun, meine Herren. Die kommenden Tage werden genug Anstrengung bringen.«
Henri fand auf seinem Nachtlager allerdings keine Ruhe. Die Gedanken an Joshua ließen ihn nicht schlafen. Nach einer Weile erhob er sich und ging hinaus. Er glaubte nicht, dass ihm ein nächtlicher Gang durch die Stadt neue Erkenntnisse bringen würde, doch er konnte seine Untätigkeit zurzeit nicht ertragen. Wenn er sich bewegte, hatte er zumindest das Gefühl, etwas zu tun.
Der Vollmond schien. Nur vereinzelt zogen Wolken vorüber. Henri erinnerte dieser Anblick an seine Zeit im Heiligen Land. Damals hatte er sich in Nächten wie dieser oft allein in der Wüste bewegt. Dabei hatte er gespürt, wie belastend es war, ganz ohne Freunde und Gefährten zu sein. Trost hatte ihm in solchen Momenten allein die Nähe Gottes gespendet. Ein Gespräch mit dem Herrn hatte so manches Mal die fehlenden Freunde ersetzen können. Jetzt jedoch half ihm auch sein Beten nichts, die Trauer über das Schicksal seines Freundes war einfach zu groß. Wieder einmal stieg unbändige Wut in Henri auf. Wie hatte Maire Michel es wagen können, seinen Freund wider besseres Wissen grundlos einzusperren?
Henris Wut war so groß, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte. Doch er bezähmte sich. Sein Kopf wurde beim Gehen wieder klarer.
In der Ferne hörte Henri plötzlich Stimmen. Aus Angst, entdeckt zu werden, zog er sich in einen Hauseingang zurück, aber die Stimmen kamen nicht näher. Henri wartete eine Weile, dann ging er weiter, um herauszufinden, wo die Stimmen herkamen. Plötzlich stand er in einer Gasse, die unmittelbar an der Stadtmauer entlang führte. Kurz vor sich erblickte er einen in die Mauer eingelassenen wehrhaften Bau. Davor stand eine Gruppe von Menschen, die mit erhobenen Fäusten wetterte:
»Gebt ihn heraus! Wir machen kurzen Prozess mit ihm! Während unsere Verwandten hier draußen sterben, kann er da drinnen weiter an seinen ketzerischen Plänen schmieden! Das ist ungerecht! Also gebt ihn heraus!«
Henri erschrak. Die Leute mussten Joshua meinen. Auf wen sonst konnten sie zurzeit so wütend sein, dass sie ihn töten wollten? Der Freund musste sich also in diesem Wehrbau befinden.
Henri schöpfte erneut Hoffnung. Wenn er Recht hatte und Joshua sich wirklich in diesem Gebäude befand, dann würde er ihn befreien. Von seiner Deckung
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