Treue in Zeiten Der Pest
Mann mit schütterem, tiefschwarzem Haar. Er war Seuchenarzt, hatte sich aber bisher nicht für einen Dienst in der Stadt gemeldet. Er hatte Henri und Sean die Tür zu seinem Haus geöffnet und sie hereingewinkt, als sie davor standen und Henri unschlüssig gewesen war, welche Richtung er hätte einschlagen sollen. Henris Pferd wurde inzwischen im Stall versorgt, die beiden Reiter saßen in der Wohnstube. Medicus Monacis freute sich darüber, dass er ihnen hatte helfen können.
»Ich hasse Gewalt«, sagte er. »Ich will auch gar nicht wissen, was geschehen ist. Fühlt Euch einfach sicher bei mir. Man wird Euch hier nicht vermuten.«
Monacis, der erst seit einem Jahr wieder in Quimper lebte, nachdem er einige Zeit im Ausland verbracht hatte, hatte dafür gesorgt, dass überall in der Stadt kleine weiße Zettel mit einer Bekanntmachung ausgehangen und verlesen worden waren. Darauf stand geschrieben, dass ein bösartiges Fieber Quimper bedrohe, von dem man noch nicht wisse, ob es ansteckend sei. Jeder Einwohner habe sich daher vorsorglich binnen vierundzwanzig Stunden im Rathaus zu melden, wo er untersucht würde. Die Präfektur, der Monacis diese Maßnahme vorgeschlagen hatte, war sofort tätig geworden und hatte die Bekanntmachung überall verteilt und verlesen lassen.
»Die Ereignisse überrollen uns«, sagte der Medicus. »Man hört es ja. Alles gerät aus den Fugen. Gewalt gegen Juden, Geißler, die das Ende der Welt verkünden – das alles sind hervorragende Voraussetzungen für eine Katastrophe.«
»Was muss Eurer Meinung nach getan werden, um eine solche zu vermeiden?«, fragte Henri.
»Vieles. Rattengift muss ausgestreut werden. Wir müssen auf peinliche Sauberkeit bei allen Einwohnern achten. Angesteckte müssen überwacht, mitunter auch vollständig isoliert werden. Auch Familien müssen ihre Angehörigen anzeigen, wenn sich diese infiziert haben. Ein Erfolg wird sich allerdings nur einstellen, wenn alle mitmachen und sich die Ratsherren auch nicht davor fürchten, das ein oder andere Gesetz außer Kraft zu setzen. Die Maßnahmen müssen unbedingt durchgesetzt werden. Wer obigen Anweisungen nicht folgt, gefährdet sich und die anderen und muss sofort aus der Stadt verwiesen werden.«
»Das ist eine harte Strafe«, sagte Sean.
»Ja, sie ist hart. Aber sie ist notwendig.«
»Würdet Ihr Eurer eigenen Familie gegenüber so rigoros handeln können?«, fragte Henri.
»Ich habe keine Familie mehr«, antwortete der Arzt mit einem feinen Lächeln. »Meine Frau und meine drei Kinder starben vor Jahren bei einem Raubüberfall – übrigens genau hier, in dieser Kammer. Seitdem habe ich Quimper lange Zeit gemieden. Aber jetzt braucht man mich hier.«
»Entschuldigt, ich wollte Euch nicht zu nahe treten«, sagte Henri. Doch der Arzt winkte ab.
»Ich bin darüber hinweg«, entgegnete er. »Nur Gewalt lehne ich seitdem aus tiefstem Herzen ab.«
»Um auf Eure Maßnahmen zurückzukommen«, nahm Henri das zuvor begonnene Gespräch wieder auf, »die eigenen Familienmitglieder den Behörden ausliefern, wenn sie erkrankt sind – geht das nicht wirklich zu weit?«
»Glaubt mir, wenn Ihr die Pest schon einmal erlebt hättet, dann wüsstet Ihr, wie wichtig gerade dieser Punkt ist. Ihr dürft Euch vom derzeitigen Verlauf der Krankheit nicht täuschen lassen. Sie ist noch gar nicht voll ausgebrochen. Die Menschen treffen sich noch, arbeiten, lärmen vor der Kathedrale herum oder vor dem Bischofssitz – Ihr hört es ja. Daran lässt sich sehr gut erkennen, dass die Seuche noch gar nicht richtig zugeschlagen hat! Und vor diesem Zuschlag sollten wir uns hüten. Er wird grauenhafter sein als alles, was Ihr je erlebt habt, schlimmer noch als jedes Höllenfeuer.«
»Nun, ich kenne weder das eine noch das andere«, sagte Henri. »Aber Angst verspüre ich durchaus, Ihr braucht mich also nicht vor zu viel Naivität zu warnen. Es ist seltsam, sobald ich an die Pest denke, hege ich sofort ein Bedürfnis nach menschlicher Nähe.«
»Ich weiß, was du meinst, Herr Henri«, sagte Sean. »Genau das ist es, was mich quält, wenn ich an Angéliques Krankenlager wache. Dann bin ich zwar allein mit ihr, und das ist schön.
Aber ich bin dann auch allein mit dem Tod. Und das kann ich nicht ertragen. In diesen Momenten muss ich vor dem Leid meiner Liebsten flüchten, dorthin, wo viele Menschen sind.«
»Wie schlimm wird es dann erst sein«, fragte der Medicus, »wenn diese Menschen alle selbst erkrankt sind und
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