Treue in Zeiten Der Pest
daniederliegen?«
Darauf wusste keiner eine Antwort. Allmählich wurde es in der Kammer immer finsterer. Doch Monacis machte keine Anstalten, ein Licht zu entzünden. Die Straße vor dem Haus belebte sich, vielleicht kamen gerade die ersten Menschen von der Versammlung vor der Kathedrale zurück. Nachtwächter entzündeten die Fackeln und Ölpfannen in den Halterungen an der Stadtmauer, jemand stieß einen lauten Ruf aus.
Henri trat ans Fenster. Er überlegte, ob die größte Gefahr für Sean und ihn mittlerweile vorbei war. Sollten sie jetzt hinausgehen und Uthman suchen? Henri schwankte. Vielleicht ist es noch nicht ganz der richtige Zeitpunkt, dachte er. Vielleicht sollten wir noch ein bisschen warten. Nur zur Sicherheit.
Langsam ließ sich die Stadt nach ihrem lautstarken Protestgeschrei wieder vom alltäglichen Einerlei einnehmen. Aus den Häusern strömten Essensgerüche, hier und da erklang sogar ein Lachen. Die Geißler schienen abgezogen zu sein, vielleicht hinunter zum Wasser. Noch sind wir alle frei, dachte Henri. Doch er ahnte, dass sich dies bald ändern würde. Und was ihnen dann bevorstand, wagte er sich nicht auszumalen.
Die Menge verlief sich, Halbwüchsige brüllten sich Gemeinheiten hinterher und lachten frech dabei. Die Dunkelheit nahm zu, und der Wind wehte Erinnerungen an das offene Meer herüber.
»Ich denke, ich sollte jetzt ein paar Kerzen anzünden«, sagte Monacis.
»Können Sie nicht einmal nach Angélique schauen, Medicus?«, fragte Sean unvermittelt. »Ich habe Angst um sie.«
»Morgen«, erwiderte der Arzt. »Wenn du willst, kannst du mich dann auch auf einem Rundgang zu anderen Kranken begleiten. Es ist interessant zu sehen, wie sich Menschen unter dem Einfluss der Seuche verändern, nicht nur äußerlich.«
»Warum habt Ihr uns Zuflucht gewährt?«, fragte Henri.
»Ich dachte, Ihr hättet mich verstanden. Ich sagte doch, dass…«
»Ich habe verstanden, dass Ihr Gewalt verabscheut«, sagte Henri. »Aber mit Eurem Eingreifen bringt Ihr Euch in Schwierigkeiten. Wenn man erfährt, dass Ihr uns Unterschlupf gewährt, ist es mit Eurem guten Ruf vorbei.«
»Ach je, der gute Ruf! Ob ich den noch habe, weiß ich ohnehin nicht mehr. Ich habe der Stadt vor Jahren den Rücken gekehrt, das vergisst man hier nicht so schnell.«
Als die Kerzen brannten, bot der Medicus seinen beiden Gästen etwas zu essen an.
Kalter Braten, Käse und Brot wurden aufgetischt. Sean griff eifrig zu, Henri nur zögernd. Sie aßen schweigend. Dann sagte Monacis plötzlich wie zu sich selbst:
»Wenn sie sich doch nicht so oft waschen würden. Das macht alles noch schlimmer.«
»Was meint Ihr?«, fragte Henri.
Monacis seufzte. »Die Leute hier glauben, sie müssten sich nur tüchtig waschen, um sich vor der Pest zu schützen. Aber mit dem Wasser dringen die Gifte erst recht in ihren Körper ein. Und wer das Gift schon in sich trägt, der gibt es weiter, wenn er das Waschwasser mit anderen teilt. Das Wasser verunreinigt alles.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Henri ruhig. »Wasser heilt und kräftigt. Ich habe es im Heiligen Land bei den Sarazenen gesehen. Sie pflegen eine großartige Wasserkultur – und sie kennen keine Seuchen.«
Der Medicus blickte ihn misstrauisch an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer Ihr seid, Monsieur, Ihr seid es, der im letzten Jahr unsere Reliquie zurückholte. Ich habe Euch damals sehr bewundert. Aber befanden sich nicht auch ein Sarazene und ein Jude in Eurer Begleitung? Vielleicht habt Ihr Euch von deren ketzerischen und abergläubischen Gedanken anstecken lassen?«
»Medicus, habt Ihr uns Schutz gewährt vor dem Pöbel, weil Ihr uns für aufrechte Christen hieltet oder nicht?«
»Natürlich!«
»Dann redet nicht so unbedacht daher. Ich pflege lediglich meine eigenen Ansichten und folge nicht allen Irrtümern und Vorurteilen des christlichen Dogmas. Und glaubt mir, Wasser ist nicht schädlich. Es kann allerdings vergiftet werden, und dann birgt es natürlich wirklich eine Gefahr.«
»Zum Beispiel, wenn Juden die Fließbrunnen und Quellen vergiften.«
»Jeder kann einen Brunnen vergiften, wenn er ein böser Mensch ist.«
»Sind Juden denn etwa keine bösen Menschen? Sie haben Jesus ans Kreuz geliefert.«
»Das war vor über tausend Jahren.«
»Dennoch ist es geschehen. Und dafür haben die Juden nie gebüßt.«
»Vorhin sagtet Ihr doch, Ihr verachtet Gewalt.«
»Das tue ich auch. Aber dennoch vertrete ich wie Ihr meine Ansichten.«
»Judenhass ist keine
Weitere Kostenlose Bücher