Treuepunkte
Kindergartenfreundin von Claudia, die sich aber seit einigen Jahren aus den Augen verloren haben. So wie ich Thea. Thea hat ihre Belinda auf die Waldorfschule geschickt. Die normale Grundschule war nichts für Belinda. Hat jedenfalls Thea gemeint. Für die Kinder war das damals ziemlich traurig, für mich allerdings weniger. Thea ist sehr anstrengend. Sie ist eine Supermutter. Eine, die andere das Fürchten lehrt, weil man neben ihr immerzu mickrig wirkt. Egal ob Serviettentechnik, Papier schöpfen, Kostüme nähen – Thea kann’s. Neben Thea ist man eine Lusche. Eine 08 / 15 -Mutter. Wenn schon, denn schon, ist Theas Devise. Wer sich entscheidet, für die Kinder da zu sein, der sollte es mit all
seinen Kräften und dabei noch über sich hinauswachsen. Das klingt mir zu sehr nach Opferlamm. Zwischen Verwahrlosung und pausenloser Bemutterung gibt’s ja noch was. Thea hat nicht ein paar Monate gestillt, sondern Jahre. Würde mich nicht wundern, wenn Belinda noch jetzt heimlich abends einen guten Schluck nimmt. Thea backt nicht einfach Kuchen, sondern gestaltet Teigkunstwerke. Thea macht schlechte Laune. Trotzdem rufe ich sie an. Auch aus Neugier. Eigentlich schade, dass sich die Kinder so lange nicht mehr gesehen haben. Ich könnte Thea zum Kaffee einladen, natürlich mit Belinda, und dann beiläufig mal hören, was Verena so macht. Und natürlich Pius, der Mann von Thea. Der damals ein wenig mit Lydia, der allein stehenden Friseurin, rumgeschäkert hat. Das Letzte, was ich von Thea gehört habe, war, dass sie Zwillinge bekommen hat. Zwei Jungs. Max und Moritz. Und umgezogen sind sie. Näher ran an die Waldorfschule (zwar nur zwei Käffer weiter, aber zwei Käffer sind in einem Mütterkosmos verdammt viel). Allerdings kommt erschwerend hinzu, dass unsere Verbindung nur die Kinder waren. Das ist auf Dauer und bei unterschiedlichen Aufzuchtsvorstellungen nicht genug.
»Ich rufe Thea an und besorge mir die Telefonnummer von Verena« teile ich Christoph mit. Ich habe keine Lust, die nächsten zwanzig Jahre zu hören: »Wenn du nur einen winzigen Anruf getätigt hättest, hätte Claudias Leben sehr anders verlaufen können.« Männer vergessen so manches, mit Vorliebe Jahrestage oder sogar Geburtstage – aber so eine Kleinigkeit, wie den abgelehnten Anruf, könnte der wahrscheinlich noch im fortgeschrittenen Alzheimerzustand abrufen. Kerle haben ein sehr selektives
Gedächtnis. Eigentlich könnte natürlich auch er das Telefonat erledigen. Schließlich hat er sich schon um das Vorstellungsgespräch bei Direktor Knuschke gedrückt. Genau das werfe ich ihm jetzt sicherheitshalber auch mal vor. Ein Vater, der sich nicht mal Zeit für so etwas Wichtiges nimmt – das mochte der Knuschke nicht. Entspricht zwar nicht ganz der Wahrheit – ich glaube, es war dem Knuschke ziemlich schnuppe –, aber wenn diese Bemerkung genügt, wenigstens einen Hauch von schlechtem Gewissen bei Christoph hervorzurufen, dann ist es doch prima. Ich habe das Gefühl, unter einem gewissen Zugzwang zu stehen. Ein unangenehmes Gefühl. Schuld wird gleich leichter, wenn man sie teilt.
Ich wähle Theas Nummer. Selbstlos. Erst beim siebenten Klingeln geht sie dran. Im Hintergrund ein Lärm wie bei einem Volksfest. »Wer ist da?«, plärrt sie gegen den immensen Geräuschpegel an. »Die Andrea, Andrea Schnidt«, schreie ich zurück. »Andrea, ja so was. Was willst du denn?«, ist ihre mäßig begeisterte Reaktion. Sie klingt angespannt. »Nur mal so mich melden, mal hören, wie’s geht«, starte ich das Gespräch. Ich kann ja schlecht gleich damit rausplatzen, dass ich eigentlich nur eine Telefonnummer brauche und sie mir ansonsten reichlich egal ist. Gewisse Umgangsformen habe ich dann doch. »Sei mir nicht böse«, antwortet sie und das Gebrüll im Hintergrund erinnert an eine bevorstehende Raubtierfütterung, »gerade ist es sehr schlecht. Die Jungs haben die Windpocken und Belinda spinnt rum und nervt alle.« Hat das eben Übermutti Thea gesagt? Wie herrlich! Das hätte es früher niemals gegeben. So despektierlich hätte Thea sich niemals über ihre herzallerliebste Tochter, dieses begabte
und außergewöhnliche Kind, geäußert. »Kein Problem«, bekunde ich dann auch sofort Verständnis. »Wann passt es dir denn besser?« »Eigentlich habe ich nur nachts Ruhe, aber da sollte ich wohl besser schlafen, um den nächsten Tag zu überleben«, seufzt sie in den Hörer. Meine Güte, da muss ja eine gigantische Wende stattgefunden haben, jetzt bin ich
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