Treuepunkte
für nötig hielte.
Ich setze mich ins nächstbeste Café und feiere nur für mich allein meinen erfolgreichen Vertragsabschluss. Normalerweise hätte ich Christoph angerufen, aber unsere Telefonierfrequenz tendiert seit der denkwürdigen Nacht gen null. Das ist, gelinde gesagt, freundlich übertrieben. Wir telefonieren überhaupt nicht mehr. Nicht mal, um Organisatorisches zu klären. Ich bin nicht mal sicher, ob er sich daran erinnert, dass ich heute zum Arbeitsamt wollte. Spätestens übermorgen wird er sich erinnern!
Ich spinne meine Allein-stehend-Idee weiter. Ich liebe Was-wäre-wenn-Gedankenspiele. Ohne Kinder, ohne Mann – was wäre dann? Ausschlafen am Wochenende, ausgehen bis in die Puppen, nur die eigene Wäsche waschen, nur Essen kaufen, was einem schmeckt, nicht ständig kochen, niemanden rumkutschieren, schlafen wann immer man will. Einfach nur die eigenen Bedürfnisse befriedigen. Im Rausch dieser Gedanken kann ich die momentane Weinerlichkeit vieler Singles überhaupt nicht verstehen. Die haben nicht den leisesten Schimmer, welch herrliches Leben sie führen, denke ich und rühre in meinem Cappuccino. Sabine klagt zum Beispiel ständig, wie sehr sie es vermisst, für jemanden sorgen zu können. Ich kann verstehen, dass die Vorstellung, für jemanden zu sorgen, schön ist, die Realität ist allerdings extrem arbeitsintensiv. »Es ist dieses Gebraucht-werden-Gefühl. Das ist doch etwas, was wirklich Sinn macht im Leben,
wenn man weiß, dass einen jemand braucht.« Auch ich mag dieses Gefühl, nur damit allein ist es eben nicht getan. Ich habe Sabine schon oft angeboten, mal für eine Woche mein Leben zu leben – quasi zu tauschen (wie bei RTL 2 in dieser Sendung »Frauentausch«) – und ich bin mir nach wie vor sicher, dass sie schon nach einer Woche freiwillig und voller Begeisterung in ihr altes Leben zurückkehren würde. Wüssten Frauen im Detail, worauf sie sich einlassen, wenn sie eine Familie gründen, würden es sich viele nochmal überlegen. Das klingt jetzt sicher sehr gemein und egoistisch, aber wenigstens gedanklich wird man seinen Egoismus ja mal ausleben dürfen. Mit mangelnder Liebe hat das Ganze, meiner Meinung nach, wenig zu tun. Ich liebe meine Kinder, bis gestern war ich mir auch bei meinem Mann ziemlich sicher – aber lieben heißt eben in ganz kleinen Dosen auch dienen und damit habe ich, ab und an, gewisse Schwierigkeiten. Außerdem hat der Mensch es ja nun mal gerne, wenn sich Geben und Nehmen die Waage halten. Bei Kindern kann das naturgegeben die ersten Jahre ja nicht so sein. Für Alltagstätigkeiten der unattraktiven Art, wie zum Beispiel im Haushalt, sind sie nicht einsetzbar. Das, was man zurückbekommt, sind emotionale Gunstbezeugungen. Sicherlich ist es wunderbar, wenn kleine klebrige Hände einem übers Gesicht streichen und man sich geliebt fühlt. Schon deshalb war das frühere Lebensmodell irgendwie fairer. Man hat die Kinder großgezogen und dafür haben die sich im Alter um die Eltern gekümmert. Heute bekommt man, wenn es gut läuft, mal Besuch im Heim. Immerhin: Ich habe zwei Kinder – das erhöht die Chancen ungemein.
»Ist hier noch frei?«, unterbricht mich jemand in meinem Was-wäre-wenn-Spiel. Ich schaue auf und sehe Herrn Hiller vor mir stehen. Das graue Männchen. Er strahlt mich an. »Klar, Herr Hiller«, sage ich, obwohl ich nicht wirklich heiß auf Gesellschaft bin. Vor allem nicht auf die von Herrn Hiller. »Na, Mittagspause«, beginne ich trotzdem wohlerzogen die Konversation. Man soll nicht undankbar sein. Immerhin hat mir dieser Mann vor einer guten Stunde einen Job besorgt. »Ja, schon«, antwortet er, »aber ehrlich gesagt, eigentlich trainiere ich.« Nennt man jetzt Kaffeepause auch schon Training oder wovon redet der? »Ich mache zur Zeit ein Theorie- und Praxisseminar und nutze meine Mittagspause für ein paar Praxiseinheiten«, erklärt er, ohne dass ich nachfragen musste. Hat er eine Caféphobie und muss seine Ängste überwinden oder traut er sich nicht aus dem Haus? Der arme Kerl – dieses graue Gesicht kommt daher, dass er seit Jahren, vor lauter Angst, seine Wohnung nicht verlassen konnte. Ein Angstpatient. »Ja, prima«, lobe ich ihn deshalb gleich, »klappt doch schon toll.« Ich glaube, das nennt man positive Verstärkung. »Finden Sie, dass das toll war?«, fragt er. »Ich finde, wenn man seine Ängste überwindet, endlich mal wieder rausgeht, ist das immer eine tolle Sache, das wird Ihnen Ihr Analytiker doch auch gesagt
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