Treuepunkte
»Jetzt muss ich aber los, Herr Hiller«, sage ich just in dem Moment, in dem er seinen Cappuccino bekommt. »Lassen Sie mich nur alleine hier sitzen, ich kenne es ja nicht anders«, schnüffelt er nochmal fast lautlos. »Ich bin verheiratet, Herr Hiller, aber ich bleibe, bis Sie in Ruhe Ihren Kaffee getrunken haben und es Ihnen wieder besser geht«, spiele ich ab jetzt mit offenen Karten. »Oje, verheiratet. Das hätte ich mir denken können, bei so einer Frau.« Mann, der kann ja richtig charmant sein. Eben noch war ich nicht mal interessant und jetzt sagt er: »bei so einer Frau.« »Sind Sie glücklich?«, fragt er mich vollkommen ungeniert. Was für eine Frage. Glücklich? »Ja, natürlich«, will ich sagen, halte aber dann doch inne. Irgendwie hat das Herr Hiller nach seinem Seelenstriptease nicht verdient, dass ich ihn mit einer so lapidaren Antwort abspeise. »Ja, schon«, beginne ich also, »aber momentan ist alles ein riesiger Kuddelmuddel.«
Ehe ich mich versehe, habe ich einem mir bis vor zwei Stunden wildfremden Menschen meine Lebensgeschichte
erzählt. Herr Hiller ist ein guter Zuhörer. Leidet mit. Stöhnt an den passenden Stellen und ist, wie liebenswürdig, ganz auf meiner Seite. Das bringt einen zwar inhaltlich nicht unbedingt weiter, tut aber gut. Streicheleinheiten für die Seele. Sogar seine Wortwiederholungen stören mich auf einmal weniger. »Ich werde ihnen helfen«, sagt er dann, als ich gerade dabei bin, ihm von meinen Racheplänen zu erzählen. Will er sich als männliche Belle Michelle ins Spiel bringen? »Übrigens, ich heiße Helmuth, mit teha hinten. Helmuth Hiller. Jetzt, wo wir quasi zusammenarbeiten, können wir doch das Sie weglassen.« Er beugt sich zu mir rüber. »Ich bin die Andrea«, sage ich und ehe ich mich versehe, hat er mir mit seinen schmalen Lippen einen Kuss aufgedrückt. Hätte ich nicht noch reflexartig meinen Kopf zur Seite bewegt, hätte er mich auf den Mund geküsst. So erwischt er nur die untere Wangenhälfte. Hat sich aber nicht übel angefühlt. War vielleicht doch ein wenig voreilig, Helmuth in meine Ehegeschichten einzuweihen, aber wer weiß, vielleicht kann er mir wirklich behilflich sein. »Lass uns gleich heute Abend ausgehen«, schlägt er, vom Küssen offensichtlich euphorisiert, vor. Der hat in seinem Flirtseminar anscheinend gelernt, nie locker zu lassen. »Ich weiß nicht, ob ich heute Abend weg kann. Ich meine wegen der Kinder und so«, versuche ich, aus der Sache ein wenig Tempo zu nehmen. Der geht ja ran wie nichts. »Es geht hier nicht um mich und das, was mir sicher gefallen würde«, beschwichtigt mich mein neuer Freund, »sondern um dich. Du musst deinem Mann ein bisschen Druck machen. Ihn eifersüchtig machen. Ich rufe an und dann sagst du, dass du nochmal weg musst, wegen eines
Jobangebots oder so.« Ach du je – der Job. Das ist das Einzige, was ich Helmuth noch nicht gesagt habe. Dass mein Mann in eben der Kanzlei tätig ist, in die er mich vermittelt hat. Ich werde es nicht sagen. Noch nicht. Bei all unserer neuen Freundschaft, wer weiß, ob er da nicht sagt: »Bei aller Liebe, Andrea, das geht nicht.«
»Was ist jetzt, Andrea«, insistiert er, »gehen wir heute aus?« Warum eigentlich nicht? Man muss mit dem Sich-Rächen ja irgendwie anfangen. Herr Hiller ist optisch zwar nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe, aber als Einstiegsmodell sollte er gehen. Wenn der ein bisschen was tun würde, sähe er gar nicht mal so schlecht aus. Nur dieses Gräuliche ist wirklich unattraktiv. Außerdem erinnert er mich an jemanden. Jetzt weiß ich’s – er hat was von Horst Schlämmer, diesem fiesen Reporter, den Hape Kerkeling spielt. Nur weniger dummdreist und noch gräulicher im Ganzen. Seine Haare sind zu lang, weder lockig noch glatt und haben eine undefinierbare Farbe. Ein wohlwollender Friseur würde dazu wahrscheinlich dunkelblond sagen. Und es fehlt ihnen jeglicher Glanz und das ist es auch, was den ganzen Helmuth auszeichnet. Er ist glanzlos. Sein Schnauzbart gehört gestutzt oder besser noch entfernt und seine Klamotten sind zwar korrekt, aber eben auch nur das. Helmuth ist bei genauerer Betrachtung eigentlich eine sehr traurige Erscheinung. Man sieht ihm an, dass es mit seinem Selbstbewusstsein nicht weit her ist. Sein Äußeres schreit geradezu: »Ich bin eine Null.« Vorhin in seinem Büro ging es noch gerade. Jetzt, ohne den Schreibtisch, den großen Lederchefsessel und diesen Hauch von Macht, Jobs vergeben zu können, ist es
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