Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
verletzt, gekränkt gewesen, doch für mich war Jamies Zurückweisung das schönste Geschenk, das er mir hatte machen können. Denn ich kannte seine Gründe, und es waren triftige Gründe.
Dann fiel mir wieder ein, was er genau gesagt hatte: »Ich bin nicht sicher, dass wir es … jetzt schon tun sollten.«
Was meinte er mit »jetzt schon«?
Hieß das, er wollte bis morgen warten? Oder bis übermorgen? Wann hatte das Warten ein Ende? Wann sollten wir
es seiner Ansicht nach tun? Würde sich dieser Auftrag noch eine Woche hinziehen? Oder einen Monat? Ein Jahr? Bis er endlich bereit war, seine Frau zu betrügen?
Gerade hatte ich mich noch über seine Zurückweisung gefreut, doch jetzt kamen mir Zweifel. Was, wenn sich dadurch bloß dieser verdammte Auftrag auf unbestimmte Zeit verlängerte? Bedeutete es womöglich nur, dass meine Arbeit hier noch nicht beendet war?
»Hey, Jen«, drang Jamies Stimme durch die Tür.
»Ja?«, erwiderte ich, unfähig, mich vom Anblick meines verwirrten Spiegelbilds loszureißen.
»Ich gehe mal kurz runter zum Empfang. Ich glaube, ich habe meine Kreditkarte dort liegen lassen. Soll ich dir irgendetwas mitbringen?«
»Nein, danke. Ich habe alles, was ich brauche.«
Ich drehte den Hahn auf und wartete ab, bis das Wasser heiß war. Dann machte ich mir das Gesicht nass, entnahm dem Seifenspender einen Klecks Flüssigseife und verteilte ihn auf der Haut.
»Ich finde meinen Schlüssel nicht«, rief Jamie durch die Tür. »Kann ich mir deinen borgen?«
»Klar«, antwortete ich mit geschlossenen Augen, das Gesicht voller Seifenschaum. »Ist in meiner Handtasche.«
»Okay, danke!«
Ich spülte mir den Schaum vom Gesicht, trocknete mich mit einem flauschig weichen Hotel-Ritz-Handtuch ab, kramte in der Kosmetiktasche nach der Zahnbürste und putzte mir rasch die Zähne. Ausnahmsweise die verkürzte Version. Dann knipste ich mit einem tiefen Seufzer das Licht aus und öffnete die Tür.
Beim Verlassen des Badezimmers fiel mein Blick sogleich auf das weiß lackierte Rokokobett mit den goldenen Verzierungen. Die Laken waren zerwühlt. Der Gedanke an unsere
französische Beinahe -Affäre und seine unerklärliche Zurückweisung stürzte mich erneut in Verwirrung. Wenn ich das Rätsel doch nur lösen könnte! Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
Dann sah ich Jamie reglos im Zimmer stehen, mit seinem Telefon in der Hand. Er schien angestrengt zu lauschen. Der merkwürdige Ausdruck in seinen Augen konnte am ehesten mit bitterster Enttäuschung beschrieben werden. Welche Nachricht auch immer da gerade durch die Leitung kam, es war keine gute. Ganz im Gegenteil.
Erst jetzt fiel mir auf, was er in der anderen Hand hielt.
Meine schwarze Karte. Die ich wohlweislich ins sichere Seitenfach meiner Handtasche gesteckt hatte und die er nur zu Gesicht bekommen sollte, sofern – und vor allem nachdem – er den Test nicht bestanden hatte.
Selbst aus gut sechs Metern Entfernung konnte ich deutlich das verschnörkelte rote A auf schwarzem Grund erkennen. Es glühte richtiggehend in der nur vom Mondschein erhellten Suite. Wie ein Scheinwerfer.
Es brannte mir förmlich ein Loch in die Iris. Denselben Effekt musste der scharlachrote Buchstabe gehabt haben, den sich Hester Prynne aus dem gleichnamigen Buch von Nathaniel Hawthorne auf die Kleider hatte nähen müssen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Unsere Blicke kreuzten sich, und wir starrten uns minutenlang an. In seinen Augen spiegelten sich Traurigkeit und Verletztheit ob des erlebten Verrates. Es brach mir schier das Herz.
Ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, ließ er das Telefon sinken und klappte es zu. Das Geräusch hallte durch den Raum wie ein Schuss.
So standen wir uns eine Ewigkeit gegenüber und maßen uns mit Blicken. Stumme Fragen und Anschuldigungen flogen zwischen uns hin und her wie unsichtbare Schallwellen.
Jamie machte als Erster den Mund auf.
»Du hast mich reingelegt?«, fragte er leise, ohne einen Hauch von Wut in der Stimme. Dafür klang er verletzt. Verletzt, verwirrt und zutiefst gekränkt. »Es war eine Falle?«
Ich schloss die Augen und suchte krampfhaft nach den passenden Worten, bis mir klar wurde, dass es keine gab. Für Situationen wie diese gibt es kein Protokoll, keine vorgefertigten Reden. »Jamie, ich …«
»Von Anfang an!«, rief er, jetzt doch aufgebracht. »Von Anfang an, verdammt noch mal!?«
»Nein!«, schrie ich verzweifelt. »Nicht von Anfang an. Erst vor ein paar
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