Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
als ich nun in ihr ausdrucksloses Gesicht blickte.
Es lag nicht nur an der offensichtlichen Machtverschiebung. Jetzt war ich es ja, die sie um Hilfe bat, um Mitgefühl.
Es herrschte eine gewisse Leere im Raum, ein spürbares Vakuum.
Da erst stachen mir die Fotos auf dem Tisch ins Auge.
Dieselben Fotos, die ich beim letzten Mal verzweifelt zu ignorieren versucht hatte, weil sie zu viel verrieten. Weil sie Details enthüllten, die ich nicht wissen wollte und nicht wissen musste.
Vor einem Monat hatten die gerahmten Bilder noch fünf Menschen gezeigt. Fünf scheinbar glückliche Gesichter. Nun waren es nur noch vier. Anne und ihre drei Söhne, alle unter zehn, wie es aussah. Es war, als hätte jemand einen Radiergummi genommen und das fünfte Gesicht einfach ausradiert, jeden Hinweis auf ihn gründlich entfernt.
In diesem Augenblick bemerkte ich auch, dass Annes linker Ringfinger leer war.
So sehr ich mich bemühte, die Veränderungen zu ignorieren, es hatte keinen Sinn.
Hier war sie, die Tatsache, die ich nicht hatte erfahren wollen, die Antwort auf die Frage, die ich nicht zu stellen gewagt hatte. Unübersehbar, nicht zu ignorieren.
Ich musste daran denken, wie uns unsere Grundschullehrer eingeschärft hatten, ausschließlich mit Bleistift zu schreiben. Kugelschreiber waren strengstens verboten, denn wenn man sich damit verschreibt, ist nichts mehr zu machen. Dann lässt sich der Fehler nicht mehr beheben. Dann kann man das falsch geschriebene Wort, das spiegelverkehrte R nur noch durchstreichen. Zurück bleibt ein unschöner Fleck, ein Beweis für die Tatsache, dass man gepatzt hat. Und alle können den Patzer sehen.
Bleistift dagegen ist unbeständig. Wandelbar. Nachgiebig. Jedenfalls haben unsere Lehrer das behauptet. Man verschreibt sich, radiert und schreibt weiter, als wäre es nie geschehen. Keine hässlichen Kugelschreiberflecken. Bleistift lässt sich quasi unsichtbar machen.
In meinen Augen war das immer schon totaler Quatsch. Wie oft hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen und versucht,
mit meinem Radiergummi einen Fehler rückgängig zu machen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, so kräftig ich die entsprechende Stelle mit dem Radierer bearbeitete und dabei haufenweise kleine rosarote Krümel produzierte, stets hinterließ mein Bleistift Spuren. Das fehlerhafte Wort oder das verkehrte R war trotz allem noch zu erahnen.
Ganz auslöschen ließ es sich nie.
Stets lugte es noch hinter dem korrigierten Wort oder Buchstaben hervor.
Und schon damals habe ich immer gedacht: Der hässliche Kugelschreiberfleck ist wenigstens ehrlich.
Auch hier, in Mrs. Jacobs Wohnzimmer, waren Spuren zu erkennen. Unleugbar, unauslöschlich. Man sah es an den Gesichtern ihrer drei Kinder, an den umgedrehten Gummibäumen, an dem umgehängten Kunstwerk an der Wand. Und vor allem an ihrer linken Hand, an der vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein schwerer Diamantring gesteckt hatte. So schwer, dass ihr abends manchmal der Finger lahm geworden war, doch sie hatte sich nie darüber beschwert. Wie leicht sich diese Hand nun anfühlen musste.
Erst jetzt begriff ich wirklich, warum ich mit meinen Auftraggeberinnen keinen weiteren Kontakt pflegte. Es war reiner Selbstschutz. Im Laufe der Zeit hätte ich mir unbewusst das Gewicht all dieser Diamantringe, Fotos, Gesichter aufgeladen, und die Last wäre viel zu schwer für mich gewesen.
Ich konnte mir noch so oft in Erinnerung rufen, dass mich keine Schuld traf, dass ich diesen Frauen vielmehr ein Geschenk machte, das vielen anderen verwehrt bleibt. Als ich Anne nun in die Augen sah, wusste ich, dass sie mir zwar, realistisch gesehen, keinen Vorwurf machen konnte, aber aus ihrer Sicht war das natürlich trotzdem naheliegend. Ich war der Sündenbock, und das würde ich auch in den kommenden Jahren bleiben … oder länger.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte sie höflich, aber unbewegt.
Ich gab mir größte Mühe, ihr abweisendes Verhalten und ihren vorwurfsvollen Blick zu ignorieren. Außer Anne Jacobs fiel mir beim besten Willen niemand ein, der mir helfen konnte. Ich musste zumindest fragen.
Also bückte ich mich, holte aus meiner schwarzen Lederaktentasche meinen Laptop und klappte ihn auf.
»Ich nehme an, Sie erinnern sich, womit ich mir meinen Lebensunterhalt verdiene«, sagte ich freundlich, während der Computer hochfuhr.
Sie nickte. »Wie könnte ich das vergessen.«
Doch während ich ein neues Browserfenster öffnete und im Verlauf die
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