Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
Schutzengel. Sie hatte aus der Ferne über mich gewacht, mich nicht nur vor dem Schmutz und Straßendreck der Stadt befreit, den ich tagtäglich mit nach Hause brachte, sondern auch vor der Stadt selbst beschützt.
Batman hat Alfred, aber ich habe Marta.
Ich sank benommen auf die Couch, Jamies Visitenkarte noch immer fest umklammert. Es fühlte sich an, als wäre gerade ein Hurrikan durch mein Leben gefegt, und dieses kleine weiße Stück Pappe war das Einzige, das mir geblieben war.
Hatte sie womöglich recht?
Wenn sie mich aus den Klauen eines Raymond Jacobs befreien konnte, dann hatte sie vielleicht auch ihre Gründe gehabt, dafür zu sorgen, dass ich Jamie nicht aus meinem Leben verbannte. Und vielleicht waren es gute Gründe gewesen.
Als es an der Tür klopfte, drehte ich in Zeitlupe den Kopf.
Ich musste nicht erst aufmachen, um zu wissen, wer auf der anderen Seite stand. Manchmal weiß man einfach, was als Nächstes geschieht.
»Hallo«, sagte ich leise, als ich die Tür öffnete. »Möchtest du reinkommen?«
Mein Besucher antwortete nicht. Das musste er auch nicht. Ich wusste, er würde mir genügend zu sagen haben, wenn er erst eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich selbst hatte auch so einiges zu beichten. Also hielt ich bloß die Tür auf und sah zu, wie Jamie bedächtig in meine Wohnung kam.
35
Grau in allen Schattierungen
Es gibt Situationen im Leben, die sind in keinem Buch beschrieben. Wir lernen in der Schule nicht, wie man damit umgeht, und auch in den zahlreichen elterlichen Ansprachen, die junge Menschen angeblich auf das Leben vorbereiten sollen, werden sie nicht erwähnt.
Wir können keine Internetrecherchen dazu anstellen, keine Freundinnen dazu befragen, und ganz sicher liefern uns weder Liebeslieder noch Bilder in irgendwelchen Museen eine Lösung. Jede Konsultation herkömmlicher Quellen der Inspiration oder Aufklärung ist zwecklos.
Weil manche Situationen eben erst das Leben schreibt. Weil wir nicht einmal ahnen, dass es sie gibt, bis sie durch unsere Tür spazieren und auf unserem Sofa Platz nehmen.
Jamie und ich starrten uns ein paar Jahrhunderte lang an. Unsere Augen kommunizierten in einer Sprache, die man uns in insgesamt sechsunddreißig Jahren Schulbildung und Erziehung nicht beigebracht hatte.
Ich wusste nicht, wer den ersten Schritt tun sollte.
Also fasste ich mir ein Herz. »Es war nicht von Anfang an«, sagte ich leise. Das war das Einzige, das ich herausbrachte. Das Einzige, das er unbedingt wissen musste. Weil
es die Wahrheit war. Wer hätte gedacht, dass die Wahrheit so unglaubwürdig klingen könnte.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Karen hat es mir erzählt.«
Ich fröstelte, als ich ihren Namen aus seinem Mund vernahm. Am liebsten hätte ich mir die Hände auf die Ohren gedrückt und laut vor mich hingesummt, bis sich seine Lippen nicht mehr bewegten.
»Es ist also wahr?«, fragte ich. Insgeheim hoffte ich wohl immer noch, dass alles nur ein riesiges Missverständnis gewesen war, ein grauenhafter Albtraum, und dass Jamie gekommen war, um mich aufzuwecken und wieder nach Paris zu bringen.
Er nickte ernst. »Aber es ist nicht, wie du denkst.«
Ich sah ihn an, bot ihm schweigend meine ungeteilte Aufmerksamkeit an. Ich wollte hören, was er zu sagen hatte. Noch vor ein paar Tagen wäre das zu viel verlangt gewesen, doch jetzt, nach allem, was sich ereignet hatte, war ich endlich bereit, es zu hören.
Er holte tief Luft und begann mit seiner Geschichte, von der ich hoffte, dass sie mein Leben verändern würde.
»Wir haben vor fünf Jahren geheiratet. Die ersten drei lief es gut. Dann ging es bergab. Wir haben uns auseinanderentwickelt. Wir gingen zur Paarberatung, aber das nützte nichts. Ich wollte alles wieder ins Lot bringen, weil ich dachte, es gehöre sich so. Dass man dafür kämpft, alles opfert, um die Ehe zu retten. Sie sah das wohl anders, denn vor acht Monaten hat sie mich mit einem Kerl aus meiner Firma betrogen. Kurz darauf haben wir uns getrennt. Ich habe die Scheidung eingereicht, und ihre Anwälte haben sie sofort darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht mehr bekommen würde als das, was im Ehevertrag vorgesehen war. Was ihr anscheinend nicht genügt hat, denn sie trug ihnen auf, ein Schlupfloch zu finden.«
»Ehebruch«, stellte ich leise fest, führte den Gedanken weiter, als hätte ich es schon die ganze Zeit über gewusst. Das letzte Puzzleteil, das sich hinter dem Sofa versteckt hatte. Das Puzzle hatte zwar
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