Trias
Enttarnung, die den sicheren Tod bedeutete. Um die Gedanken seiner Gegner zu kennen, musste er ihnen jedoch nah sein. Er hatte die philosophischen Lektionen in einem Camp der Samurai verinnerlicht. In Lee Kong hatte er zwar nicht seinen Meister gefunden, aber es beeindruckte ihn, mit welcher Gnadenlosigkeit Peking selbst gesteckte Ziele verfolgte. Das Töten von Gegnern war dabei ein ganz normaler Bestandteil des langen Marsches auf das so begehrte Ziel hin: die Macht.
Durch einen Seiteneingang betrat er das riesige Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit. Zwei bewaffnete Männer begleiteten ihn in die oberste Etage des lang gestreckten, achtstöckigen Hauses. Die Tür zu Lee Kongs Büro war halb geöffnet. Aus dem Innern drang traditionelle chinesische Musik.
Lee Kong thronte auf einem mit Schnitzereien reich verzierten Stuhl, der mit rotem Samt gepolstert war. Der 51-Jährige war seit zehn Jahren Chef des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit Guojia Anquan Bu , kurz Guoanbu . Er war stolz auf sein Heer an Spionen, das weltweit mit mehr als 800 000 Agenten in 50 Ländern und 170 Residenturen aktiv war. Das chinesentypische »Staubsaugerprinzip«, nach dem jede noch so winzige Information gesammelt und ausgewertet wurde, hatte sich durchaus bewährt. Die Kundschafter waren die wichtigsten Spritlieferanten für den Motor des rasanten Wirtschaftswachstums und des technologischen Fortschritts geworden. Und weil Chinas Agenten dem MSS ergeben waren wie Shaolinmönche ihrem Glauben, hatte Lee Kong kaum Ausfälle zu beklagen. Wer sich dennoch umdrehen ließ und als Doppelagent das Lager wechselte, wurde zu Freiwild erklärt.
Lee Kong freute sich auf seinen Gast. Der Mann hatte eine lange Zeit als Geheimdienstler hinter sich, hatte erfolgreich Tausende von Auslandsagenten geführt und machte nicht den Eindruck, als könne ihn etwas erschüttern. Wäre er Chinese, so wäre er ein Drache, dachte Kong mit Sympathie.
Er wies mit der Hand auf einen Bambussessel, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.
»Willkommen in Peking, Mister Storm«, sagte er auf Englisch. »Haben Sie sich verletzt?«
»Ausgerutscht im Bad. Ich sollte besser auf mich achten.«
Trotz der Schatten des Jetlags blitzten Storms Augen wach und hell. Um seinen Mund lag ein herrischer Zug. Niemals würde er dem General gegenüber zugeben, von zwei Schlägern überrumpelt worden zu sein. Agentenstolz ist Agentenstolz, dachte er bei sich.
Lee Kong fragte nicht weiter nach. Er spazierte zu seiner Teeküche, die in einem Bambusschränkchen eingebaut war, und bediente sich.
»Schön, mal wieder hier zu sein«, fuhr Storm fort. »Es ist Jahre her, dass wir uns das letzte Mal trafen.«
General Kong war die eigene Zeit in Europa noch lebendig in Erinnerung. In der damaligen Bonner Botschaft der Volksrepublik China hatte er die Agenten angeleitet, die als Konsulatsmitarbeiter getarnt gewesen waren und die Bonner Politszene abgeschnüffelt hatten.
»Bevor wir über G8 und Marienstrand reden«, begann Kong, der wieder Platz genommen hatte, »interessiert mich die Antwort auf eine andere Frage.« Er zündete eine chinesische Zigarette an, die in einer Elfenbeinspitze steckte.
Storm sah ihn aufmerksam an. Kong drehte an seinem Ring. Das Drachenmotiv war jetzt deutlich zu erkennen.
»Werden Sie von Ihren Freunden vom BKA nicht vermisst? Wird da niemand stutzig, wo Sie die ganze Zeit abbleiben?«
»Ich habe mich unsichtbar gemacht«, erwiderte er. »Aus den Augen, aus dem Sinn. Von dem man nichts hört, der fällt auch nicht auf. Die Ermittler haben derzeit so viel um die Ohren, dass sie sich nicht mit einem Phantom beschäftigen.«
Kong nickte und sagte: »Wirklich interessant. Bei uns in China denkt man anders. Bei uns gilt das Aufmerksamkeitsprinzip. Wir finden es auffällig, wenn wir von uns bekannten Menschen nichts hören. Es könnte ihnen ja etwas zugestoßen sein. Oder sie könnten zu Verrätern geworden sein.«
Storm hob abwehrend die Arme. »Wollen wir jetzt wirklich in einen Diskurs über unsere unterschiedlichen Mentalitäten einsteigen?«
Kong wechselte folgsam das Thema.
»Wie Sie wissen, hat unsere Regierung auf Trias anfangs panisch und kopflos reagiert. Man könnte auch sagen: Es machte sich pures Entsetzen breit. Amerika und Deutschland würden durch Trias praktisch auf Jahre von der OPEC von Rohstoffen unabhängig. Und da unsere Verträge mit den Russen spätestens im nächsten Jahr auslaufen, würden wir in der
Weitere Kostenlose Bücher