Tribunal
fand Gefallen an seinen Geschichten, die ihn und Verena ergötzten. Dörthe war bei ihren regelmäßigen Treffen dagegen die Einzige, die ihren Mann zuweilen bremste. Doch über gelegentliche schüchterne Vorhalte, dass Hubert in der einen oder anderen Sache wohl zu weit gegangen sei, reichte ihre Kritik nie hinaus. Ansonsten blieb sie folgenlos. Frodeleit konnte mit Löffkes Erzählfreude nicht mithalten. Seine Karriere war ohne Tricks verlaufen. Er hatte den geradlinigen Weg beschritten und sich bereits kurz nach Beginn seiner Richtertätigkeit um zusätzliche Aufgaben beworben, die Gerichtsbibliothek betreut und Referendare ausgebildet, sich beim Justizministerium als Prüfer angedient und sich den Ruf erworben, im Assessorexamen die Prüflinge mit Fragen aus entlegenen Rechtsgebieten zu überraschen, die sie häufig nicht zu beantworten wussten. Frodeleit galt als unnachgiebig. Er rechtfertigte seine Strenge mit einem zum Ideal erhobenen Anspruch an die Qualität nachwachsender Juristengenerationen. Als guter Jurist galt, wer geschickt juristisch fachsimpeln konnte und virtuos die Klaviatur der Fachbegriffe beherrschte. Frodeleit korrigierte bei den Prüfungen auch den Satzbau der Kandidaten. Er unterbrach sie, wenn sie unverständliche Satzreihen bildeten, und forderte sie auf, dasselbe nochmals in kürzeren und besser gegliederten Sätzen zu formulieren. Ich will Ihnen nichts‹, pflegte er dabei immer wieder zu sagen. ›Es hilft Ihnen nichts, wenn ich alles durchgehen lasse!‹ Frodeleit ließ wenig durchgehen, weder als Prüfer im Examen noch als Richter am Oberlandesgericht. Er war außergewöhnlich geschickt darin, sich Akteninhalte schnell und strukturiert zu erarbeiten. Nur selten musste er eine Akte ein zweites Mal lesen, um ihren Inhalt zu erfassen. Meist reichte es ihm aus, sich ein zweites Mal vertieft mit Auszügen der Akte zu beschäftigen, um sich ein abschließendes Bild zu machen. Dabei achtete er akribisch auf formal ordnungsgemäße Prozessführung.
Frodeleit setzte sich erschöpft auf die andere Decke, die Verena auf dem Betonboden ausgebreitet hatte. Er zitterte und schaltete den anderen Heizlüfter wieder an. Hemd und Hose klebten unangenehm am Körper. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Verena setzte sich neben ihn und lehnte sich an. Dann fiel er in einen unruhigen Schlaf.
4.
Der durchdringende Heulton weckte sie kurz nach halb sieben. Es war ein anschwellender, ins Mark dringender Ton, der nach einer Minute singend verebbte. Stephan kannte diesen Ton. Er entsprach dem Sirenensignal, das im Krieg einen Luftangriff ankündigte. Sein Vater hatte ihm dies in seiner Kindheit immer wieder erklärt, wenn auf der benachbarten Grundschule die tellerförmige Sirene an manchen Sonntagen zum Test jaulte und das durchdringende Geheul Stephan ängstigte und auf den Jungen düster und bedrohlich wirkte. Als die Sirene in dem Stollen zum ersten Mal aufheulte, hielt sich Stephan die Ohren zu, weil er wusste, dass der Testlauf die Sirene mehrfach heulen ließ. Bromscheidt imitierte zynisch dieses vergessen geglaubte Warnsignal.
Sie standen auf und gingen in die Halle und kaum, dass Bromscheidt sie mit der Kamera erfasst hatte, wünschte er über Lautsprecher freundlich einen guten Morgen.
»Das Buffet steht im Hauptstollen«, erklärte er. »Einer von Ihnen muss es nur heranziehen. Ich wähle Frau Schwarz aus. Die anderen bleiben bitte in der Mitte der Kathedrale stehen, und zwar an der Stelle, wo Sie sich gerade befinden.«
Sie taten, was er wollte. Marie löste sich aus der Gruppe und ging zu dem rechts gelegenen Anschluss des Hauptstollens, doch Bromscheidt korrigierte und wies sie an, zu der gegenüberliegenden Seite zu gehen. Die Lichtschranken leuchteten wie gewohnt in beiden Stollenfortsätzen. Marie näherte sich vorsichtig den rot-violetten Lichtfäden. Hinten führte der Stollen wie gewohnt ins schwarze Nichts. Marie hatte keine Taschenlampe dabei. Von dem angekündigten Frühstück war nichts zu sehen. Sie blieb stehen.
»Knien Sie sich hin, Frau Schwarz, und bewegen Sie sich auf Knien langsam nach vorn, bis etwa einen halben Meter vor die Lichtschranke«, befahl Bromscheidt. »Dort finden Sie das Ende eines Seils. Nehmen Sie das Seil und bewegen Sie sich auf Knien rückwärts, bis es spannt. Bewegen Sie sich langsam und in aller Ruhe! Es werden an die zehn Meter sein, bis Sie Zug auf dem Seil verspüren. Achten Sie darauf, dass das Seil am Boden bleibt! Wenn Sie es hochziehen,
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