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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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lebte, waren die meisten Mädchen fest mit jemandem zusammen, bevor sie mit der High School fertig waren, und manche beendeten die High School gar nicht, sondern gingen vorher ab, um zu heiraten. Von den besser gestellten Mädchen hingegen – den wenigen Mädchen, deren Eltern es sich leisten konnten, sie aufs College zu schicken – wurde erwartet, dass sie sich ihrer Freunde aus der High School entledigten, bevor sie fortgingen, um nach besseren Partien Ausschau zu halten. Die abgehalfterten Jungen wurden bald weggeschnappt, und den Mädchen, die nicht schnell genug zugegriffen hatten, blieb nur noch wenig Auswahl. Ab einem bestimmten Alter war jeder neue Mann, der in die Stadt kam, in aller Regel mit einer Ehefrau ausgestattet.
    Doch Robin hatte ihre Chancen gehabt. Sie war fortgegangen, um Krankenschwester zu werden, und hatte damit ganz neue Möglichkeiten erhalten. Mädchen, die Krankenschwestern wurden, konnten an Ärzte herankommen. Auch da hatte sie versagt. Was ihr zu der Zeit überhaupt nicht bewusst gewesen war. Vielleicht lag das Problem darin, dass sie zu ernst war. Dass sie so etwas wie
König Lear
ernst nahm und nicht etwa den praktischen Nutzen von Tanzabenden und Tennisspielen. Eine gewisse Art von Ernsthaftigkeit bei einem Mädchen konnte trotz guten Aussehens abschrecken. Aber es ließ sich schwer ein einziger Fall denken, bei dem sie ein anderes Mädchen um den ergatterten Mann beneidet hätte. Sie konnte sich einfach noch niemanden vorstellen, den sie heiraten wollte.
    Nicht, dass sie einer Heirat gänzlich abgeneigt gewesen wäre. Sie wartete einfach, als sei sie noch ein Mädchen von fünfzehn Jahren, und nur dann und wann wurde sie mit ihrer wahren Situation konfrontiert. Gelegentlich richtete eine der Frauen, mit denen sie arbeitete, es so ein, dass sie jemanden kennenlernte, und dann erschrak sie bis ins Innerste angesichts der Aussichten, die man passend für sie fand. Und erst vor kurzem hatte sogar Willard ihr einen Schreck eingejagt, als er einen Witz darüber machte, dass er unweigerlich eines Tages einziehen und bei der Pflege von Joanne helfen würde.
    Manche entschuldigten sie bereits oder lobten sie sogar, weil sie davon ausgingen, dass sie von Anfang an geplant hatte, ihr Leben Joanne zu widmen.
    *
    Als sie die Mahlzeit beendet hatten, fragte er sie, ob sie einen Spaziergang am Fluss machen wollte, bevor sie in den Zug stieg. Sie willigte ein, und er sagte, das gehe nicht, ohne dass er ihren Namen wisse.
    »Es könnte sein, dass ich Sie jemandem vorstellen möchte«, sagte er.
    Sie nannte ihren Namen.
    »Robin wie Robin Hood?«
    »Nein, wie Robin Rotbrust, das Rotkehlchen«, sagte sie, wie sie es schon oft gesagt hatte, ohne nachzudenken. Jetzt schämte sie sich so, dass sie nichts weiter tun konnte, als unbekümmert weiterzureden.
    »Jetzt sind Sie dran, mir Ihren zu sagen.«
    Sein Name war Daniel. »Danilo. Aber hier Daniel.«
    »Hier ist also hier«, sagte sie, immer noch in dem frechen Ton, der das Ergebnis ihrer Scham wegen Robin Rotbrust war. »Aber wo ist da? In Montenegro – leben Sie da in einer Stadt oder auf dem Land?«
    »Ich habe in den Bergen gelebt.«
    Solange sie in dem Zimmer über seinem Laden gesessen hatte, hatte es einen Abstand gegeben, und sie hatte keinen Augenblick lang befürchtet – und auch nicht gehofft –, dass dieser Abstand durch irgendeine brüske oder ungeschickte oder hinterlistige Geste von ihm durchbrochen werden könnte. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ihr das mit anderen Männern passiert war, hatte sie sich für die Männer geschämt. Jetzt gingen sie und dieser Mann zwangsläufig ziemlich nah nebeneinander her, und wenn ihnen jemand entgegenkam, dann konnte es sein, dass ihre Arme sich streiften. Oder er trat hinter sie, um aus dem Weg zu gehen, und sein Arm oder seine Brust berührte kurz ihren Rücken. Diese Möglichkeiten und das Wissen, dass die Passanten in ihnen ein Paar sehen mussten, weckte in ihr so etwas wie ein Summen, eine Spannung in ihrer Schulter und in diesem einen Arm.
    Er fragte sie nach
Antonius und Kleopatra
, hatte es ihr gefallen (ja), und welche Szene darin hatte ihr am besten gefallen. Ihr kamen etliche gewagte und glaubhafte Kuss-Szenen in den Sinn, aber das konnte sie nicht sagen.
    »Die Szene am Ende«, sagte sie, »wo sie die Viper an ihren Körper legen wird« – sie hatte
Brust
sagen wollen und dann ein anderes Wort genommen, aber
Körper
klang auch nicht viel besser –, »und der alte Mann

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