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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Bahnhof zu Fuß nach Hause, unter den dunklen, vollen Bäumen. Joanne war noch nicht zu Bett gegangen. Sie legte eine Patience.
    »Tut mir leid, dass ich den ersten Zug verpasst habe«, sagte Robin. »Ich habe zu Abend gegessen. Stroganoff.«
    »So heißt das also, was ich rieche.«
    »Und ich habe ein Glas Wein getrunken.«
    »Auch das rieche ich.«
    »Ich glaube, ich gehe gleich zu Bett.«
    »Ich glaube, das ist besser.«
    Kometenschweife himmlischer Herrlichkeit, dachte Robin auf dem Weg nach oben. Von Gott, der unsere Heimstatt ist.
    So etwas Dummes, und sogar ein Frevel, wenn man an Frevel glaubte. Küsse auf einem Bahnsteig und das Versprechen, sich in einem Jahr wieder einzufinden. Wenn Joanne davon wüsste, was würde sie sagen? Ein Ausländer. Ausländer gabeln die Mädchen auf, die kein anderer haben will.
    Zwei Wochen lang sprachen die Schwestern kaum miteinander. Dann, als keine Anrufe oder Briefe kamen und Robin abends nur ausging, um die Stadtbücherei aufzusuchen, entspannte Joanne sich. Sie wusste, dass etwas anders war als vorher, aber sie hielt es nicht für etwas Ernstes. Sie begann, zu Willard Scherze darüber zu machen.
    In Gegenwart von Robin sagte sie: »Weißt du schon, dass unser Mädchen hier sich neuerdings in Stratford auf geheimnisvolle Abenteuer einlässt? Oh ja. Ich kann dir sagen. Kam nach Hause und roch nach Alkohol und Gulasch. Weißt du, wie das riecht? Wie Erbrochenes.«
    Wahrscheinlich dachte sie, dass Robin in ein exotisches Restaurant mit europäischen Gerichten auf der Speisekarte gegangen war, sich zum Essen ein Glas Wein bestellt hatte und sich weltgewandt vorgekommen war.
    Robin suchte die Stadtbücherei auf, um sich über Montenegro kundig zu machen.
    »Mehr als zwei Jahrhunderte lang«, las sie, »setzten sich die Montenegriner gegen die Türken und die Albaner zur Wehr, worin sich für sie die Pflichten des Mannes nahezu erschöpften. (Daher stehen die Montenegriner in dem Ruf, Wert auf ihre Ehre zu legen, kriegerisch zu sein und eine Abneigung gegen jedwede Arbeit zu hegen, welch Letzteres eine scherzhafte Behauptung der Jugoslawen ist.)«
    Welche zwei Jahrhunderte das waren, vermochte sie nicht zu entdecken. Sie las von Königen, Metropoliten, Kriegen, Attentaten und dem bedeutendsten aller serbischen Gedichte, dem »Bergkranz«, geschrieben von einem montenegrinischen König. Sie behielt kaum ein Wort von dem, was sie las. Nur den Namen, den richtigen Namen von Montenegro, den sie nicht auszusprechen wusste.
Crna Gora
.
    Sie sah auf Landkarten nach, und es fiel ihr schwer genug, das Land überhaupt zu finden, aber schließlich schaffte sie es mit Hilfe einer Lupe, sich mit den Namen verschiedener Städte vertraut zu machen (keine davon Bjelojevici), mit den Flüssen Moraca und Tara und den dunkel eingefärbten Gebirgszügen, die mit Ausnahme des Zetatals das ganze Land zu bedecken schienen.
    Ihr Bedürfnis, diese Nachforschungen zu treiben, war schwer zu erklären, und sie versuchte es auch gar nicht erst (wenngleich natürlich ihre Besuche in der Bücherei und ihr Leseeifer bemerkt wurden). Sie musste wohl vorgehabt haben – und war darin zumindest halbwegs erfolgreich –, Danilo an einem realen Ort mit einer realen Vergangenheit anzusiedeln, musste gedacht haben, dass die Namen, die sie da lernte, ihm bekannt waren, dass die Landesgeschichte etwas war, was er in der Schule gelernt hatte, dass er einige dieser Orte als Kind oder junger Mann besucht haben musste. Und vielleicht gerade jetzt besuchte. Wenn sie mit dem Finger einen gedruckten Namen berührte, dann berührte sie vielleicht genau den Ort, an dem er sich gerade aufhielt.
    Sie bemühte sich auch, aus Büchern und technischen Abbildungen etwas über das Uhrmacherhandwerk zu lernen, aber darin war sie nicht erfolgreich.
    Er blieb bei ihr. Der Gedanke an ihn war da, wenn sie aufwachte und wenn bei der Arbeit eine Ruhepause eintrat. Die weihnachtlichen Festlichkeiten lenkten ihre Gedanken auf die Gottesdienste in der orthodoxen Kirche, von denen sie gelesen hatte, mit bärtigen Priestern in goldenen Messgewändern, Kerzen und Weihrauch und tiefen traurigen Gesängen in einer fremden Sprache. Bei dem kalten Wetter und dem Eis bis weit draußen auf dem See musste sie an den Winter in den Bergen denken. Sie hatte das Gefühl, auserwählt worden zu sein, um mit diesem seltsamen Teil der Welt in Verbindung zu treten, auserwählt für ein anderes Schicksal. Das waren Worte, die sie selbst

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