Tricks
Küche anbieten zu müssen, wie sie es bei einer Frau getan hätte. Sie stand auf, durchquerte fast auf Zehenspitzen das Zimmer und griff sich eine Zeitschrift. Und schon in dem Augenblick, als sie die Zeitschrift in die Hand nahm, wusste sie, dass es sinnlos war – die Zeitschriften waren alle auf billigem braunen Papier in einer Sprache gedruckt, die sie weder lesen noch zuordnen konnte.
Als die Zeitschrift dann aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag, merkte sie, dass sie nicht einmal alle Buchstaben entziffern konnte.
Er kam mit weiterem Kaffee.
»Ach«, sagte er. »Sie können also meine Sprache lesen?«
Das klang sarkastisch, aber er wich ihrem Blick aus. Es war fast, als habe ihn in seinem eigenen Zuhause die Schüchternheit gepackt.
»Ich weiß nicht mal, welche Sprache das ist«, antwortete sie.
»Das ist Serbisch. Manche sagen Serbokroatisch.«
»Kommen Sie dort her?«
»Ich stamme aus Montenegro.«
Jetzt war sie ratlos. Sie wusste nicht, wo Montenegro lag. Neben Griechenland? Nein – das war Mazedonien.
»Montenegro ist in Jugoslawien«, sagte er. »Oder so wird uns gesagt. Aber wir denken da anders.«
»Ich dachte gar nicht, dass man aus diesen Ländern raus kann«, sagte sie. »Aus diesen kommunistischen Ländern. Ich dachte nicht, dass man wie ein ganz normaler Mensch ausreisen und in den Westen kann.«
»O, man kann.« Er sprach, als interessiere ihn das nicht besonders oder als habe er das alles vergessen. »Man kommt raus, wenn man es wirklich will. Ich bin vor fünf Jahren fortgegangen. Und jetzt ist es leichter. Sehr bald werde ich dahin zurückkehren, und dann werde ich wahrscheinlich wieder fortgehen. Jetzt muss ich Ihr Essen kochen. Oder Sie müssen hungrig aufbrechen.«
»Nur noch eins«, sagte Robin. »Warum kann ich diese Buchstaben nicht lesen? Ich meine, was sind das für Buchstaben? Ist das dort, wo Sie herkommen, das Alphabet?«
»Das kyrillische Alphabet. Wie das griechische. Jetzt koche ich.«
Sie saß mit den fremdländisch bedruckten Seiten aufgeschlagen in ihrem Schoß und dachte, dass sie eine fremde Welt betreten hatte. Ein kleines Stück einer fremden Welt in der Downie Street in Stratford. Montenegro. Kyrillisches Alphabet. Es war unhöflich, nahm sie an, ihn Weiteres zu fragen. Sonst kam er sich noch wie ein seltenes Exemplar vor. Sie musste sich beherrschen, obwohl ihr eine Unmenge Fragen in den Kopf kamen.
Alle Uhren unten – oder die meisten davon – schlugen die Stunde. Es war schon sieben Uhr.
»Gibt es noch einen späteren Zug?«, rief er aus der Küche.
»Ja. Um fünf vor zehn.«
»Geht das in Ordnung? Wird sich jemand Sorgen um Sie machen?«
Sie sagte nein. Joanne würde ungehalten sein, aber das konnte man nicht unbedingt besorgt nennen.
Das Essen war ein Schmortopf oder eine dicke Suppe, in einer Schale serviert, mit Brot und Rotwein.
»Stroganoff«, sagte er. »Ich hoffe, Sie mögen es.«
»Es ist köstlich«, sagte sie wahrheitsgemäß. Bei dem Wein war sie sich nicht so sicher – süßerer Wein wäre ihr lieber gewesen. »Isst man das in Montenegro?«
»Nicht direkt. Die montenegrinische Küche ist nicht sehr gut. Wir sind nicht für unsere Küche berühmt.«
Dann war es sicherlich in Ordnung zu fragen: »Für was dann?«
»Was ist hier?«
»Kanada.«
»Nein, ich meine, für was ist man hier berühmt?«
Das ärgerte sie, sie kam sich dumm vor. Trotzdem lachte sie.
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich für nichts.«
»Montenegriner sind dafür berühmt, dass sie herumschreien und sich streiten. Sie sind wie Juno. Sie brauchen Disziplin.«
Er stand auf und legte Musik auf. Er fragte nicht, was sie hören wollte, was sie erleichterte. Sie wollte nicht gefragt werden, welche Komponisten sie bevorzugte, denn die einzigen, die ihr einfielen, waren Mozart und Beethoven, und sie war sich nicht sicher, ob sie die beiden auseinanderhalten konnte. Eigentlich mochte sie Volksmusik, aber sie fürchtete, er könnte diese Vorliebe dumm finden, herablassend, sie mit ihrer Vorstellung von Montenegro in Verbindung bringen.
Er hatte etwas aufgelegt, das an Jazz erinnerte.
*
Robin hatte noch nie einen Liebhaber oder auch nur einen Freund gehabt. Wie war das passiert oder eben nicht passiert? Sie wusste es nicht. Da war natürlich Joanne, aber es gab andere Mädchen mit ähnlicher Belastung, die es geschafft hatten. Ein Grund war vielleicht, dass sie diesen Dingen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nicht früh genug. In der Stadt, in der sie
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