Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
sich auch oft in ihrem Leben von Menschen umgeben gefühlt, die Anspruch auf ihre Zuwendung und ihre Zeit und ihre Seele erhoben. Und meistens hatte sie nachgegeben.
    Sei entgegenkommend, sei freundlich (besonders, wenn du nicht beliebt bist) – das lernte man in einer Kleinstadt und auch in einem Mädchenschlafsaal. Sei willfährig jedem gegenüber, der dich aussaugen will, auch wenn er keine Ahnung hat, wer du in Wirklichkeit bist.
    Sie blickte dem Mann in die Augen und lächelte nicht. Er nahm ihren Vorsatz wahr, und ein besorgtes Zucken huschte über sein Gesicht.
    »Ein gutes Buch, was Sie da haben? Worüber ist es?«
    Sie nahm sich vor, nicht zu sagen, dass es über das alte Griechenland war, über die beträchtliche Nähe der alten Griechen zum Irrationalen. Sie sollte nicht Altgriechisch unterrichten, sondern ein Fach namens Griechisches Denken, also las sie noch einmal den Dodd, um sich kundig zu machen. Sie sagte: »Ich möchte gerne lesen. Ich gehe lieber in den Aussichtswagen.«
    Und sie stand auf und ging hinaus, mit dem Gedanken, dass sie nicht hätte sagen sollen, wohin sie ging, denn so war möglich, dass er ihr nachkam, sich entschuldigte und einen weiteren Vorwand fabrizierte. Auch, dass es im Aussichtswagen kalt sein würde und sie sich wünschen würde, ihren Pullover mitgenommen zu haben. Unmöglich, jetzt zurückzugehen und ihn zu holen.
    Der Rundumblick aus dem Aussichtswagen am Ende des Zuges stellte sie weniger zufrieden als der Blick aus dem Fenster des Schlafwagens. Jetzt drängte sich vor ihr ständig der Zug selbst ins Bild.
    Vielleicht war ihr Problem, dass sie fror, genau wie sie es befürchtet hatte. Und dass sie Herzklopfen hatte. Ihre Reaktion jedoch nicht bedauerte. Noch eine Minute, und er hätte ihr seine schweißfeuchte Hand entgegengestreckt – in ihrer Vorstellung war seine Hand entweder schweißfeucht oder trocken und schwielig –, beide hätten ihre Namen genannt, und sie hätte in der Falle gesessen. Es war der erste Sieg dieser Art, den sie je davongetragen hatte, und das gegen den kläglichsten, den jämmerlichsten Gegner. Sie konnte ihn förmlich hören, wie er sein
zusammentun
murmelte. Entschuldigend und unverschämt. Entschuldigend aus Gewohnheit. Und unverschämt als Folge einer Hoffnung oder einer Entschlossenheit, seine Einsamkeit zu durchbrechen, seinen Hunger zu stillen.
    Es war notwendig gewesen, aber es war ihr nicht leichtgefallen, gar nicht leicht. Eigentlich war es sogar ein größerer Sieg, sich jemandem in diesem Zustand zu widersetzen. Ein größerer Sieg, als wäre er gewandt und selbstsicher gewesen. Trotzdem ging es ihr eine Weile lang nicht gut damit.
    Im Aussichtswagen saßen nur noch zwei weitere Fahrgäste. Zwei ältere Frauen, jede saß für sich allein. Als Juliet sah, wie ein großer Wolf die vollkommen glatte Schneedecke eines zugefrorenen kleinen Sees überquerte, wusste sie, dass die zwei ihn auch sehen mussten. Aber keine von ihnen brach das Schweigen, und das war ihr angenehm. Der Wolf kümmerte sich nicht um den Zug. Er zögerte nicht und lief auch nicht schneller. Sein Fell war lang, von silbriger Farbe, die in Weiß überging. Glaubte er, dass sie ihn unsichtbar machte?
    Während sie den Wolf beobachtete, kam noch ein Fahrgast herein. Ein Mann, er setzte sich auf den Platz ihr gegenüber auf der anderen Seite des Ganges. Auch er hatte ein Buch bei sich. Ein älteres Paar folgte – sie klein und lebhaft, er groß und schwerfällig, mit schweren, verächtlichen Atemzügen.
    »Kalt hier hinten«, sagte er, nachdem beide Platz genommen hatten.
    »Soll ich dir deine Jacke holen?«
    »Bemüh dich nicht.«
    »Das macht keine Mühe.«
    »Ich komm schon zurecht.«
    Einen Augenblick später sagte die Frau: »Man hat ja hier wirklich eine herrliche Aussicht.« Er antwortete nicht, und sie versuchte es noch einmal. »Man kann rundum sehen.«
    »Was es zu sehen gibt.«
    »Warte, bis wir in die Berge kommen. Das wird was werden. Hat dir dein Frühstück geschmeckt?«
    »Die Eier waren zu glibberig.«
    »Ich weiß«, sagte die Frau mitleidig. »Ich dachte noch, ich hätte einfach in die Küche gehen und sie selber machen sollen.«
    »Kombüse. Die nennen das Kombüse.«
    »Ich dachte, die ist auf dem Schiff.«
    Juliet und der Mann schräg gegenüber schauten gleichzeitig von ihren Büchern hoch, und ihre Blicke begegneten sich, mit ruhiger, gewollter Ausdruckslosigkeit. Und in diesen ein oder zwei Sekunden bremste der Zug, dann hielt er, und sie

Weitere Kostenlose Bücher