Tricks
sie gar nicht vor, in diesen Bus zu steigen. Jetzt, wo Ailo aus dem Weg ist, fällt es ihr leichter, ihre eigenen Absichten zu erkunden. Sie steht endlich auf und kocht sich Kaffee, gießt ihn in einen Becher, nicht in eine der Tassen, die Ailo aufgetragen hat.
Sie ist zu aufgedreht, um Hunger zu haben, aber sie untersucht die Flaschen auf dem Küchenbüfett, die für den Leichenschmaus mitgebracht worden sein müssen. Kirschlikör, Aprikosengeist, Tia Maria, süßer Wermut. Die Flaschen sind aufgemacht worden, aber ihr Inhalt wurde nicht sonderlich geschätzt. Beliebter war das, was die leeren Flaschen enthielten, die Ailo neben der Tür aufgereiht hat. Gin und Whisky, Bier und Wein.
Sie gießt sich Tia Maria in den Kaffee und nimmt die Flasche mit die Stufen hinauf ins große Wohnzimmer.
Dieser Tag ist einer der längsten des Jahres. Aber die Bäume hier in der Gegend, die hohen, buschigen Nadelbäume und die rotstämmigen Erdbeerbäume, sperren das Licht der untergehenden Sonne aus. Das Dachfenster macht die Küche hell, während die Fenster im Wohnzimmer nichts weiter als lange Schlitze sind, und dort hat die Dunkelheit schon begonnen, sich anzusammeln. Der Fußboden ist nicht fertig – alte, abgetretene Teppiche liegen auf Quadraten aus Sperrholz –, und der Raum ist merkwürdig und wahllos eingerichtet. Hauptsächlich mit Kissen, die auf dem Fußboden herumliegen, dazu zwei mit rissigem Leder bezogene Polster. Ein großer Ledersessel, von der Sorte, bei der man die Rückenlehne verstellen und eine Fußstütze vorklappen kann. Ein Sofa unter einer echten, aber zerlumpten Patchworkdecke, ein uralter Fernseher und Bücherregale aus Ziegelsteinen und Brettern – auf denen aber keine Bücher zu finden sind, nur Stapel alter Jahrgänge von
National Geographic
, ein paar Segelzeitschriften und Ausgaben von
Popular Mechanics
.
Ailo hat es offensichtlich nicht geschafft, dieses Zimmer sauber zu machen. Asche liegt auf den Teppichen, wo Aschenbecher umgestoßen worden sind. Und überall liegen Krümel. Juliet kommt der Gedanke nachzuschauen, ob es einen Staubsauger gibt, aber dann malt sie sich aus, was passieren kann, falls es ihr gelingen sollte, ihn in Gang zu setzen – die mürben Teppiche könnten sich zum Beispiel darin verfangen. Also bleibt sie einfach in dem Ledersessel sitzen und gießt Tia Maria nach, wenn der Kaffeepegel in ihrem Becher sinkt.
Nichts an dieser Küste gefällt ihr recht. Die Bäume sind zu groß und stehen zu dicht beieinander und haben keine eigene Persönlichkeit – sie bilden einfach einen Wald. Die Berge sind zu großartig und unwahrscheinlich, und die Inseln, die auf den Wassern der Meerenge von Georgia schwimmen, sind zu beharrlich pittoresk. Dieses Haus, mit seinen großen Räumen und schrägen Decken und dem rohen Holz, ist kahl und selbstbewusst.
Die Hündin bellt von Zeit zu Zeit, aber nicht drängend. Vielleicht will sie hereinkommen und Gesellschaft haben. Aber Juliet hat nie einen Hund gehabt – ein Hund im Haus wäre ein Zeuge, kein Begleiter, und sie würde sich dann nur unbehaglich fühlen.
Vielleicht verbellt die Hündin einen neugierigen Hirsch oder einen Bär oder einen Puma. In den Zeitungen von Vancouver hat sie etwas über einen Puma gelesen – sie glaubt, es war an dieser Küste –, der ein Kind zerfleischt hat.
Wer möchte schon in einer Gegend leben, in der man jedes Terrain außerhalb des Hauses mit wilden und räuberischen Tieren teilen muss?
Kallipareon. Von den schönen Wangen
. Jetzt hat sie's. Das homerische Wort glitzert an ihrem Angelhaken. Und darüber hinaus kommt ihr plötzlich ihr ganzer griechischer Wortschatz zu Bewusstsein, all das, was jetzt seit fast sechs Monaten im Schrank liegt. Weil sie Griechisch nicht zu unterrichten brauchte, hat sie es weggelegt.
So kann es gehen. Man legt es für eine kurze Zeit weg, und hin und wieder schaut man bei der Suche nach etwas anderem in den Schrank, und man erinnert sich, und man denkt,
bald
. Dann wird es zu etwas, das einfach da ist, in dem Schrank, und andere Dinge häufen sich davor und darüber auf, und schließlich denkt man überhaupt nicht mehr daran.
Das, was einmal ein kostbarer Schatz war. Man denkt nicht mehr daran. Ein Verlust, den man einmal für unvorstellbar hielt, und jetzt ist es zu etwas geworden, an das man sich kaum noch erinnert.
So kann es gehen.
Und was, wenn man es nicht weglegt, wenn man sich damit seinen Lebensunterhalt verdient, Tag für Tag? Juliet denkt an die
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